Jahrbuch 2012-2013
343 Vermischtes Vitalistischer Nihilismus Künstlerfreundschaft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Zuwenig repräsentieren Schriftsteller noch Gesellschaft, zu pluralistisch sind die Ästhetiken. Umso auffälliger sind zuletzt dieVersuche ihrerWiederbelebung in den vielerorts neugegründeten literarischen Salons. Einem solchen historischenVorbild verpflichtet sich auch die in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfindende „Neu- beurer Woche“. Jeweils die Jahreswechsel verbrachte eine illustre Künstlerrunde von 1910 bis 1913 auf dem oberbayerischen Schloss Neubeuern, das heute ein In- ternat beherbergt. In ihrem Zentrum die befreundeten Dichter Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder . Besonders Letzterem, der nahezu vergessen ist, hat der eingeschworeneVeranstal- terkreis unter Leitung der zärtlich schrägenWiener Künst- lerin und Kunsttheoretikerin Elisabeth von Samsonow und dem Lehrer Reinhard Käsinger neben einer kleinen Ausstellung in der Hausbibliothek im 50. Todesjahr eine prächtig bebilderte Monografie („Künstlergäste Schloss Neubeuern“, Band 2) gewidmet. Nicht als wissenschaftlicheTagung versteht man sich, sondern wie das historischeVorbild als „Ort der Zuflucht, der ruhigen Tätigkeit, der anregenden Geselligkeit und – nicht zuletzt – gelebter Freundschaft“, wie Joachim Seng sagte, Bibliotheksleiter im Frankfurter Goethehaus und Hofmannsthal -Experte. Gleichberechtigt neben Vorträgen und Diskussionen stehen dementsprechend andere Erkenntnisformen, und seien es die zauberhaften Improvisationen des Pianisten Hubert Huber über kleine Lieder und Tänzchen aus alten Gästebüchern, in denen auch der sonst so ernste Schröder, Schöpfer zahlreicher geistlicher Gesänge, mit burlesken Spottgedichten und Karikaturen in derTradition WilhelmBuschs auftrumpfte. Schon deshalb ist Peter Sloterdijk der geeignete Stargast für dasTreffen, sind Rhetorik undWissenschaft, Kunst und Erkenntnis, Witz und Geist bei ihm doch von je ununterscheidbar. Über eines seiner Lieblingsthemen, die Psychoanalyse, performte der Philosoph in Neubeu- ern, oder: über den historischen Weg der Seele in ihr Unglück. Seit nämlich der Mensch der urzuständlichen Hordenbeseelung entronnen sei, so Sloterdijk , seitdem liege auf ihm„ein hohes Risiko von ontologischer Fehlge- burtlichkeit“. In der rationalisierenden Geistesrevolution der von Karl Jaspers sogenannten Achsenzeit, also im ersten Jahrtausend vor Christus, hätten die Hochgötter Besitz von der Seele ergriffen, werde diese zum Schau- platz von Kämpfen von Engeln und Dämonen. Die „erfolgreiche Nachbeseelung“ bleibe im Bedarfs- fall dennoch einfach, im katholischen Exorzismus werde der schmutzige Geist raus-, dann hurtig der gute rein- gekehrt. Noch der deutsche Idealismus trage die Spur, dass das Absolute, also der Geist, sich in das einzelne Individuum hinein kontrahiere. Gott ist der absolute Therapeut, weil absolut indiskret. Doch mit der Verbür- gerlichung gingen die Probleme los, denn nun stünden sich „Ich“s gegenüber: „Der mündige Mensch kocht für sich selber.“ Die Psychoanalyse aber setze zur „nach- holenden Beseelung durch gemeinsame Beseeltheit“ Indiskretion voraus, müsse nach wie vor Machtverhält- nisse im Inneren des anderen Selbsts ordnen. Auf dem „40-jährigen Marsch durch die ichbildendeWüste“ dürfe es kein Murren geben über die unbegreifliche Dauer der Irrwege. Als bloße Dienstleistung, als reparierende Wiederherstellung, da schleicht sich der Ernst dann auch bei Sloterdijk in den Spott, wäre die Psychologie noch untauglicher als so schon. Ohne kulturelle Kontinuen und große Überlieferungen drohe uns der „entgeisterte Verbrauch der eigenen Erlebnismöglichkeiten“, ein vita- listischer Nihilismus. Zur Probe auf die Gegenseitige Beseelung bleibe deshalb keine Alternative. Da wirkt der Abstand zu Hofmannsthal und seiner Generation dann plötzlich klein. Dieser Generation nämlich, zeig- te die Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder- Bach , begegnete die einstmals so heilige Seele erstmals als evolutionäres „Überlebsel“, als Pendant zum Blinddarm oder denWeisheitszähnen. Hofmannsthal habe deshalb literarisch nicht nur beständig vorbürgerliche Literarische Formen wiederzubeleben versucht, während Borchardt und Schröder tatsächlich als Übersetzer tätig wurden. Er habe dabei nach der Seele in diversen religiösen Mysti- ken ebenso gefahndet wie in der Psychoanalyse, beim Animismus wie in der Esoterik. Bei der „Neubeurer Woche“ kann man all das noch heute erleben, indem man etwa einer Rezitation altionischer Götterlieder in Borchardts Übersetzung nebst „Glas-Klang-Performance“ beiwohnt. Schon das Schlossgebäude, zumindest der Mittelbau, ist reinstes Talmi: brillanter Historismus aus derWerkstatt des Archi- tekten Gabriel von Seidl und den Jahren 1904 bis 1908. Hofmannsthals Drama „Der Tor und der Tod“, das gelesen schon deshalb larmoyant wirkt, weil sich der Text durch die halbe Weltliteratur zitiert, schmiegt sich, gespielt vom Vorarlberger Landestheater Bregenz, plötzlich aufregend makellos in die Rokoko-Imitation des golden ausstuckierten Festsaales. „Wir sind doch alle selbstverständlich Epigonen“, sagt Rudolf Alexander Schröder in einer gezeigten Fernsehdokumentation. Irgendwo musste sie schließlich hin, die Seele, und sei es nach Neubeuern. Michael Stallknecht (freier Mitarbeiter SZ)
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy OTQ4NjU5