Jahrbuch 2013-2014
187 Internat Jordanien 24. September 2013 Herr Schlierbach Schön, dass Ihr da seid! Ich bin im Sommer mit meinen Studierenden nach Jordanien gereist und habe davon ein paar Eindrücke mitgebracht, die ich euch erzählen möchte: Jordanien liegt neben Syrien, neben Israel, neben Irak und Saudi-Arabien. Und weil es da liegt, wo es liegt, stellt ihr auch vielleicht die Frage, die viele Leute schon vor der Reise gestellt haben: Ist das nicht gefährlich? Die klare Antwort: Nein. Zwar gibt es überall dort Konflikte und Krieg, aber es gibt immer auch die Menschen, die friedlich und normal leben wollen – und Jordanien ist so ein Land. Das tolle an diesen Ländern ist erstens: nette Menschen. Menschen, die einen freundlich aufnehmen, darauf achten, was man braucht. Die etwas zu erzählen haben. Zweitens: eine tolle Landschaft zwischen Wüste und Quelle, mit herrlichen Obst- gärten und kargen Felslandschaften. Atemberaubende Berge und Täler. Drittens eine faszinierende Kultur: Die Menschen haben der Land- schaft vieles abgerungen und durch Jahrhunderte mit wechselnden Herr- schaften eine vielfältige Kultur entwickelt, in der vieles seinen Platz hat. Viertens: Eine Menge religiöser Stätten und Gegenden, die für unsere Religionen bedeutsam sind und im Umgang damit eine besondere Art von Toleranz erfordert haben. Was mich bei der Reise besonders nachdenklich gemacht hat, war folgendes: Schon am erstenTag sind wir im Norden entlang der syrischen Grenze an denVorbereitungen für Flüchtlingslager vorbeigekommen – mitten in der Wüste, auf plattem Boden von Steinbrocken wurden kilometerlang Lagerstraßen gebaut. Ein schon bestehendes Flüchtlingslager für Syrer dort hat gerade 120000 Einwohner und ist jetzt praktisch die viertgrößte Stadt Jordaniens. Als wir später wieder im Norden in Umm Quais am See Genezareth saßen, konnten wir ein Donnern hören. Erst dachten einige, es sei ein Gewitter, bis alle merkten: Das ist Kriegslärm. Bombeneinschläge. Man hört in einem friedlichen Café, wie andere sich gegenseitig töten wollen. Es ist nicht so weit weg. Nicht gefährlich für uns, gar nicht. Aber beklemmend beim Gedanken daran, dass dort auch keine anderen Men- schen leben, als hier. Und immer wieder hörten wir einen Satz von Jordaniern, den ich euch besonders ans Herz legen möchte: „Das wird 100 Jahre dauern, bis sie wieder normal zusammen leben können.“ Diesen Satz sagten Jordanier immer wieder und ich finde ihn wichtig als Erinnerung für uns, es nie so weit kommen zu lassen. Zum einen ist der Satz schrecklich: 100 Jahre, das heisst, von den jetzt lebenden wird das wohl keiner mehr er- leben. Zu groß ist der Schmerz, zu groß dieWunden und Verwüstungen, die bei Menschen und im Land angerichtet sind. Das wird nicht so schnell wieder gut. Zum anderen aber fand ich einen zweiten Aspekt wichtig: Die Jordanier sagten nicht einfach: Es ist aus und vor- bei, alles kaputt, sondern mit diesem Satz haben sie alle auch ein Ziel benannt: „wieder miteinander leben können“. Auch wenn es schwer ist, auch wenn ich es vielleicht nicht erleben werde, dann gibt es doch ein Ziel: wieder miteinander leben können. Für uns nehme ich aus diesem Satz also zwei Sachen mit: Eine Mahnung, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Und als zweites eine Hoffnung: Wenn es doch so weit ist, dass man sich mit jemandem absolut nicht vertragen kann, dann trotzdem ein Ziel im Auge zu haben – auch wenn es fern ist: wieder miteinander leben können.
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