Jahrbuch 2013-2014
326 Feste Schön, dass Ihr da seid! Vor einem Jahr um diese Zeit war ich mit Studenten in Jorda- nien, ich erzähle das nicht wegen der Erinnerung, sondern weil seit diesem Jahr ein Bild in mir gereift ist, das ich Ihnen und euch gerne vor Augen malen möchte. Kurz gesagt ist es folgendes: Neubeuern ist eine Karawane. Eine Karawane – das sind Menschen, die sich zusammen- tun, weil sie von A nach B kommen wollen und der Weg etwas schwierig ist, so dass man ihn nicht einfach allein gehen kann. Eine Karawane – das sind Menschen, die etwas erreichen wollen, weil sie sich am Ziel versprechen, mit ihrenWaren, ihren Kenntnissen oder ihrem Können einen Gewinn, einen Erfolg zu erzielen. Und dann tun sie sich zusammen: Ganz unterschiedliche Men- schen, die einen mit vielen Waren und prächtigen Kamelen – die anderen vielleicht mit wenig Gepäck und nur einem Packesel, die gemeinsam zum gegenseitigen Schutz und zur gegenseitigen Unterstützung durch schwieriges Gebiet gehen. Jeder hat seine Güter und jeder hat seine Kenntnisse und Fähigkeiten bei sich. Wenn nun jemand Schwierigkeiten hat, sich Neubeuern als Karawane vorzustellen, wo doch dieses Schloss seit vielen Jahr- hunderten fest und mächtig an einem Ort steht: Man muss das ganze nur in Gedanken umkrempeln: Die, die drinnen sind im Schloss, gehen hier einenWeg, gemeinsam, durch Schwierigkei- ten, manchmal mit überraschenden Ereignissen und Umwegen. Da steht sie nun, die Karawane, aber bevor es los geht, liest einer der erfahrenen Karawanenbegleiter einen alten Text: „Ein jegliches hat seine Zeit, und allesVorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. …Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. …Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.“ (aus der Bibel: Prediger 3,1–15) Wenn so eine Karawane losgeht, dann muss sich erst im Aus- probieren und Aufeinander-Achten ein passendes Gleichgewicht zwischen Geschwindigkeit und Ausdauer, zwischen Ruhe und Arbeit ergeben. Manchmal geht es schnell, dann wieder langsamer und irgendwie müssen am Ende alle mitkönnen. Das verlangt ein gutes Zusammenwirken. Manchmal muss dann einer die Karawane antreiben, schnell zu einem Punkt zu kommen, wo man gut rasten kann, bevor es Nacht wird oder bevor ein Sturm kommt, und alles noch schnell aufgebaut und gesichert werden muss, bevor es zu spät ist. Manchmal aber muss einer die Karawane lieber imTakt halten und lieber ein wenig bremsen, damit es auch dauerhaft Schritt für Schritt weitergehen kann und nicht einige erschöpft aufgeben. Manchmal braucht sie jemanden, der ihr ein Lied singt und so die verborgenen Kräfte weckt. Manchmal braucht die Karawane einen, der nach einem Streit wieder alle zusammenholt. Und manchmal braucht sie auch einen, der „Stopp!“ ruft und ihr einen Ruhetag verordnet, damit die Kräfte für den nächsten Wegabschnitt auch wirklich reichen. Es ist in einer Karawane wichtig, dass alle wenigstens einiger-
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