Jahrbuch 2015-2016
220 Vortragsreihe „Deutschland und Eritrea sind wie mein linkes und mein rechtes Bein“ Zum Auftakt der Vortragsreihe Vorbilder widmete sich, der aus Eritrea stammende, Zekarias Kebraeb einem brandaktuellen Thema. Mit 17 Jahren kehrte er der Militärdiktatur seines Landes den Rücken und be- gab sich auf die gefährliche Reise nach Europa, oder ins „Paradies“, wie er es nannte. Beeindruckend und schonungslos berichtete Zekarias von seiner Flucht. Diese begann im Jahr 2002 in Asmara, seiner Hei- matstadt. Durch die Saharastaaten Sudan und Libyen und über das Mittelmeer erreichte er schließlich, nach 7 Monaten und mehreren Nahtoderfahrungen das „Paradies“: Sizilien. Doch das sollte nicht das Ende, sondern der Anfang einer langen Odyssee werden, in der sich Auffanglager an Auffanglager reihen. Von Si- zilien also erst einmal ins Auffanglager nach Crotone/ Italien. Erster Dämpfer: „Auch in Europa bin ich nicht frei.“ Dann weiter nach Mailand: obdachlos und abge- brannt, so kann es nicht weitergehen. Für 10,80€ nach Lugano. „Wo liegt das überhaupt?“ 2003, Asylantrag in der Schweiz, 2 Jahre im Behördensumpf, ohne Per- spektive, dahinvegetierend, wartend, dass dem Asyl- gesuch endlich stattgegeben wird. Die Schweizer lehnen ab, was nun? Auf durch Deutschland nach Norwegen. Doch in Oldenburg endet die Reise abrupt: Verhaftet wegen illegaler Ein- reise, 3 Monate Gefängnis - Abschiebehaft in Lübeck - das war 2004. Hungerstreik, frühzeitige Entlassung. Jetzt ins Asylheim nach Oldenburg. 2005 geht es nach Nürnberg und der nächste Behördenkampf beginnt. Auch Deutschland lehnt ab. Abschiebung droht. Zeka- rias Kebraeb klagt und gewinnt: Das Abschiebungs- urteil wird aufgehoben. 6 weitere Jahre verharrt er in der Behördenmühle, ohne Recht auf Wohnortswech- sel, Ausbildung oder, wie er es nennt, ohne Recht auf Leben. Erst 2011 wird er als politischer Flüchtling an- erkannt und erhält einen deutschen Pass. Seine bewegende Geschichte unterstrich Zekarias mit Videoausschnitten und mit Textpassagen aus sei- nem Buch „Hoffnung im Herzen, Freiheit im Sinn.“ Er stellte den Schülern seine Heimatstadt Asmara in einem kurzen Film vor und ließ sie auch am Pro- pagandamaterial der Militärdiktatur teilhaben. Sei- nen Vortrag schloss er mit einem Ausschnitt aus der diesjährigen Bundestagsdebatte vom 10. Juni 2015, in welcher Eritrea als unsicheres Herkunftsland aner- kannt wurde. Sichtlich bewegt löste sich das Publikum langsam auf. Jedoch folgten viele interessierte Schüler Ze- karias in die Bibliothek zum anschließenden Kamin- gespräch. Eine bunte Mischung aus 5.-12. Klässlern löcherte den ehemaligen Flüchtling über eine Stunde lang mit Fragen - gesellschaftspolitischer, landeskund- licher, geschichtlicher und sehr persönlicher Natur. „Was kann man tun, wie kann man helfen?“ Zekarias: „Am besten aufklären. Viele sprechen immer von Wirtschaftsflüchtlingen und vergessen dabei den menschlichen Aspekt. Helfen ist einfach, ja, besser als hassen!“ „Was hat Ihre Mutter zu Ihrer Flucht gesagt?“ Zekarias: „Sie wusste es nicht. Ich bin gegangen, ohne mich zu verabschieden. Sie hätte mich sonst nicht gehen lassen.“ „Was haben Sie jetzt vor?“ Zekarias: „Ich studiere Politik in Äthiopien und wirke in der Exilopposition Eritrea. Deren Ziel ist es, ein Satellitenradio zu betreiben, so die Zensur zu umgehen und die eritreische Bevölkerung bezüg- lich der Missstände im eigenen Land wachzurütteln. Dieses Projekt kostet aber 100.000€, weshalb ich Spenden sammle. Die Hälfte habe ich schon.“ „Wie schafft man es, die Hoffnung nicht zu verlie- ren?“ Zekarias: „Ich war 17, blauäugig und naiv. Europa ist sicher nicht so paradiesisch, wie ich es mir ausge- malt habe, aber es ist besser, als es in Eritrea jemals sein könnte. Meine Mutter hat mich immer wieder ermutigt „nicht zurückzublicken“. „Vermissen Sie Ihre Familie?“ Zekarias: „Ja, aber die Sehnsucht nach Freiheit war größer als alles andere, wichtiger als Heimweh.“ „Was war an Ihrer Reise am schlimmsten?“ Zekarias: „Das Mittelmeer und die Wüste: In der Wüste gibt es keinWasser, im Mittelmeer nurWasser und von beidem hat man nichts.“ „Würden Sie nochmal flüchten, den gleichen Weg gehen?“ Zekarias: „Nein, weil ich weiß, was mich erwarten würde. Ich würde einen anderen Weg suchen, um Eritrea zu verlassen - nicht durch die Sahara oder über das Meer.“ Zekarias Kebraeb - ein mutiger junger Mann, der den vielen Geschichten rund um die aktuelle Flüchtlings- debatte ein Gesicht gegeben hat, informativ und zu- gleich bewegend. Wir verbrachten einen spannenden Abend, der vor allem zum Nachdenken über eigene Vorurteile und Klischees, Unbekanntem gegenüber, anregte und vielleicht sogar bewirkt, dass künftig stets nachgefragt und dann erst geurteilt wird. Julia Schmiedchen & Katja Olschewsky /
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy OTQ4NjU5