Jahrbuch 2015-2016
224 Vortragsreihe „Vom Herzchirurg zum Fernfahrer“ Am 24. November 2015 lernten wir Herrn Dr. Mar- kus Studer kennen, einen sympathischen Herrn aus der Schweiz, der einen etwas anderen Vortrag über seinen etwas anderen, unkonventionellen Lebens- weg hielt. Seinen Vortrag eröffnete er mit seinem Kindheitstraum: Große Autos. Sie faszinierten ihn schon immer. Automobilingenieur wollte er werden. Studieren und dann in einem der großen Werke in Süddeutschland arbeiten. Mit 18 Jahren hatte er ei- nen anderen Plan: Medizin studieren und ehrlicher Landarzt werden. Warum der Sinneswandel? Das weiß er nicht mehr. So spielt das Leben eben. Seinen Plan nahm er in Angriff: Er „machte sein Staatsexa- men, rutschte in die Chirurgie, verirrte sich im Laby- rinth der Spitäler und erreichte ein höheres medizini- sches Ziel als er es je gewollt hatte – und der Traum vom Landarzt entfernte sich ins Unerreichbare.“ 1 1987 gründete er zusammen mit Kollegen das Herz Zent- rum Hirsladen/Schweiz, wo sich erstmals Kardiologen und Herzchirurgen unter einem Dach befanden und als Team zusammenarbeiteten. Ein privates Kompe- tenzzentrum auf dem neuesten Stand der Herzmedi- zin – eine Pionierleistung, die bis dahin als undenkbar galt. Der Beginn einer Erfolgsgeschichte: Herr Dr. Studer hatte seine Berufung „in der Spitzenmedizin im Spannungsfeld zwischen Qualität und Wirtschaft- lichkeit“ 2 gefunden - 10 000 Herz-OP’s in 25 Jahren. In seinen frühenVierzigern war ihm bereits klar, dass er nicht ewig als Herzchirurg arbeiten wolle und kön- ne. Das sei besser für ihn als Arzt und für den Patien- ten, da der Höhepunkt der beruflichen Performance i.d.R. nicht erst mit 65 kommt. Die Idee, auf welche Spur er wechseln könnte, kam ihm relativ schnell: Die große Liebe für Autos und Technik, die Leidenschaft für’s Reisen, das in den Jahren am Herz Zentrum viel zu kurz kam und sein großerWunsch, mal Lastwagen- fahren zu lernen. Im Jahr 2000 begann er, an OP-frei- en Nachmittagen LKW-Fahrstunden zu nehmen und traf die Entscheidung, Ende 2002 nicht mehr Herzchi- rurg zu sein, sondern als Brummifahrer zu arbeiten. Ein Raunen ging durch den Festsaal. Einige lächelten. Andere schüttelten den Kopf. Verwunderung? Unver- ständnis? Bewunderung? Von allem etwas. Das Le- ben eines Herzchirurgen ist dem eines Truckers gar nicht so unähnlich, argumentierte Studer. Beide arbei- ten in oder an einem komplexenVersorgungszentrum, von dem aus alle Wege überall hin führen. Das Herz ist der Motor des Lebens, das durch seine Leistung alle Organe mit lebensnotwendigem Sauerstoff ver- sorgt. Transportmittel sind die roten Blutkörperchen. Diesem System können Fabriken und Häfen gleich gesetzt werden. Von hier aus werden lebenswichtige Waren überallhin zum Endverbraucher transportiert. Die LKW’s sind die roten Blutkörperchen. Auch im All- tag kämpfen beide an ähnlichen Fronten: Der Chirurg mit verstopften Adern, der LKW-Fahrer mit verstopf- ten Straßen. Beides hindert die wertvolle Fracht am schnellen Ankommen am Zielort. Klar sind Verantwortung und psychische Belastung nicht dieselbe. Fehler des Chirurgen wiegen für alle Beteiligten viel schwerer, denn sie sind für den Ein- zelnen viel weitreichender. Dies sind jedoch genau die Berufslasten, von denen Herr Dr. Studer sich frei machte. Im LKW genoss er seine Arbeit und sieht trotzdem viele Parallelen zu seinem alten Job. Die Tage waren immer noch lang, die Nächte kurz. Sei- ne Familie sah er nicht öfter als vorher und trotzdem erlebte er jeden Tag mit unglaublich viel Freude, auch wenn es Momente gab, in denen er sich fragte: „Wa- rum tu ich mir das an?“ Diese Momente entstanden jedoch nicht durch seinTrucker-Dasein selbst, sondern vielmehr durch seine unumgänglichen Begleiterschei- nungen, wenn er z.B. um 14 Uhr zum Abladen vor ei- nem französischen Fabriktor stand, das Löschen der Ladung etwas mehr als 2 h in Anspruch nahm und ihm dann die Sätze „Non, non Monsieur. Pas aujourd’hui. Vous êtes trop tard. On se voit demain.“ entgegen- hallten. Dagegen ist man machtlos. Sich ärgern hilft da auch nicht. Vielmehr griff er sich dann sein Rad’l, das er immer dabei hatte und erkundete die Gegend. Kurzurlaub eben - allein oder mit seinen Gästen, denn Dr. Markus Studer war nur selten allein in der Kabi- ne. Es klopften viele Interessierte an seine Fahrertür, die ihren Urlaub gerne mit einem promovierten Brum- mifahrer auf den Straßen Europas verbringen wollten. Einmal einen Kindheitstraum leben – Anpacken war Ehrensache. 2012 tauschte er den LKW gegen den Reisebus, die flüssige gegen „sprechende Fracht“, wie er es nennt und bereiste beruflich dann auch den Norden Europas, was ihm im LKW nicht vergönnt war. Bereut hat er seinen akademischen Ausstieg nie und den Wechsel in den neuen Beruf auf Rädern erst recht nicht. Wer ihn beim Gespräch über seine Arbeit als Chirurg und vor allem über seine Zeit als Trucker beobachtet, erkennt, dass seine Augen dann diesen besonderen Glanz bekommen, den nur die Men- schen haben, die in sich ruhen und da angekommen sind, wo sie hin wollten. Katja Olschewsky & Julia Schmiedchen 1 Maeder, Markus: Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer, 2009, S. 91. 2 Ebd., S. 137. /
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