Jahrbuch 2015-2016
250 Abendsprachen Herr Schlierbach Schloss Neubeuern 13. Oktober 2015 Wir leben in aufwühlenden Zeiten. Es fällt schwer, heute nach den Ereignissen in München die richtigen Gedanken zu finden. Manches ist da noch kantig, verstehen Sie es bitte als Beitrag zu notwendigem Nachdenken. Angst und Terror rücken immer näher. Mit Schrecken, den wir dachten überwunden zu haben. Aber nun ist er da - manche von euch kennen das auch schon lange aus ihren Heimatländern. Wie können wir damit umgehen? Ich will versuchen, dazu anhand von drei Symbolen hier auf dem Internatsgelände ein paar Gedanken dazu zu entwi- ckeln und zu zeigen, was Neubeuern damit zu tun hat. Ein Symbol sehen Sie hier direkt durch die Tür: DenTurm. Das möchte man vielleicht heute gerne: Sich in einen solchen wehrhaftenTurm zurückziehen und dieWelt draußen las- sen. Aber: Dieser Gedanke ist eine Versuchung. Es ist eng in einem solchen Turm. Wir hier würden vermutlich schon nicht alle hinein passen - und wen lässt man nach welchen Kriterien draußen? Und es ist dann immer noch eng imTurm. Schon mit allen unseren Ecken und Kanten, die jeder hat, würden wohl bald die ersten Verletzungen und Rauswürfe folgen. Aber Rückzug in denTurm bedeutet auch: Je mehr wir sagen „Laßt uns doch in Ruhe! Ist doch alles euer Problem!“ desto mehr Kaputte und Verzweifelte werden sagen „Wir lassen euch nicht in Ruhe, wir tragen den Schrecken zu euch!“. Ein zweites Symbol sehen Sie vor demTurm: Den Brunnen . Mit dem Gitter davor. Wir schöpfen aus, was die Erde so hergibt - auch woanders - und machen dann zu, damit wir den Ertrag nicht teilen müssen. Unser Leben beruht auf Reichtümern aus aller Welt, bis zur Kleidung, die wir auf dem Leib tragen. Wir graben all- zu oft anderen die Lebensmöglichkeiten ab. Vielleicht ist das unser Problem. Beide Symbole: Turm und Brunnen sollten uns warnen: Vor einem falschen Weg für die Zukunft und vor einer Fortsetzung eines falschen Wegs aus der Vergangenheit. Aber es gibt ein drittes Symbol - und das ist ein Gutes! Schloss Neubeuern ist nämlich weder Turm - so schön und markant er ist -, noch ist es der verschlossene Brunnen. Schloss Neubeuern ist in allererster Linie ein Haus ! Ein großes Haus, das gebaut wurde, damit viele Leute darin leben können. Verschiedene Generationen, verschiedene Hintergründe, verschiedene Länder - die Menschen in diesem Haus bringen Unterschiede mit und wirken doch zu einem gemeinsamen Ganzen zusammen! Das gemeinsame Haus als Sym- bol bedeutet: Das Schicksal der anderen ist nicht egal! Das Haus mag verschiedene Flügel haben, man muss sich manch- mal auseinandersetzen, zusammenraufen, gemeinsame Positionen und Wege erstreiten und finden - aber über allem ist der eine Gedanke wichtig: Das Schicksal der anderen ist nicht egal - es ist (un)mittelbar auch mein Schicksal. In der Lite- ratur wurden viele komplexe Gebilde „Haus“ genannt. Aus gutem Grund: Europa zum Beispiel. Die Stärke eines Hauses, unsere Stärke ist: Es kann Diskussion geben ohne Kampf und Krieg. Suche und Ringen gehören dazu, ohne dass es Ver- letzung, Opfer, Ausgestoßene gibt. Weil man weiß: Ein Haus kann nur bestehen, wenn es nicht gegeneinander arbeitet. Wie schlimm wäre es, wenn dem einen Flügel das Schicksal des anderen egal wäre. Oder gar wenn die einen die anderen bekämpfen würden - das geht einfach nicht. Es muss ein Weg für alle gefunden werden. My home is my castle … keiner, der ein Haus hat oder sich als zugehörig zu einem Haus weiß, wird so ohne weiteres über andere herfallen. Neubeuern war ein Haus für viele verschiedene Leute und ist es heute immer noch. Dank der internationalen Ausrichtung treffen Menschen zusammen, die sich sonst vielleicht egal wären und es jetzt nicht mehr sind. Die sich auch nicht bekämpfen werden. Das Zusammentreffen ist nicht immer einfach, es sind halt verschiedene Leute und die müssen sich zusammenraufen - aber Aristoteles sagt sehr richtig: „Eine Stadt besteht aus unterschiedlichen Arten von Menschen; ahnliche Menschen bringen keine Stadt zuwege.“ Und Städte wie Schlösser sind schön! Zurück zum Brunnen: Er ist ja auch ein gutes Symbol - wenn wir nicht nur für uns selbst schöpfen, sondern auch für an- dere. Wir blicken dankbar zurück auf ein Jahr für zwei junge Menschen, die ihr Haus (und ihr Land) verloren haben: Alissar und Ahmed. Das hat ihnen richtig gut getan. Der Frieden dieses Hauses und die Hausgemeinschaft mit vielen sollte uns ein Symbol sein für die Aufgaben in der Welt und dem Umgang mit ihren Problemen bis zu Terror und Krieg: Das Schicksal der anderen Mitbewohner - neben uns am Tisch, um das Mittelmeer herum und letztlich in der ganzen Welt darf uns nicht egal sein, wenn wir das Haus „Erde“ erhalten wollen. Michael Schlierbach
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