412 Feste EineWeihnachtsbegegnung Ich war schon ein paarmal in Bethlehem. Irgendwie ist dort immer ein bisschen Weihnachten. Klar, dort wurde Jesus geboren, und dort steht die Geburtskirche. Ich war mit einer Gruppe Studierender dort und wir wohnten in Bethlehem, und konnten leibhaft spüren, wie das ist, wenn sich eine viele Meter hoheTrennungsmauer um die Häuser windet. „Da darfst du hin, und dort nicht!“, auf weniger als 20 Meter Umkreis manchmal. Aber heute wollten wir in die Geburtskirche. Wenn man sich die Stelle anschauen möchte, wo Jesus geboren wurde, muss man aber früh aufstehen. Die Stelle liegt in einer Grotte unter dem Kirchenboden und man kann nur einzeln hintereinander hinein. Wenn man nicht viele Stunden warten will, muss man schon um halb sechs morgens da sein. Wir waren nicht die Ersten, aber fast. Als ich hinter den anderen die kleine Treppe runter gestiegen bin, wo im Boden rechts an der Geburtsstelle nur eine Silberschüssel eingelassen ist, war ich abgelenkt: Zwei orthodoxe Kollegen beteten und segneten links in einer Nische gerade jemanden. Das sah spannend aus! Aber ich wollte niemanden aufhalten und von hinten drängelten schon die Nächsten – und als ich die Treppe auf der anderen Seite wieder raufging, ist mir erst gedämmert: ‚Jetzt hast du die Geburtsstelle selbst gar nicht angeschaut!‘ Morgens um halb sechs in der Kirche, um die Geburtsstelle zu sehen – und dann nicht hingeschaut! Nicht einen Blick hatte ich nach rechts getan! Ein bisschen dämlich kam ich mir dann schon vor. Aber die anderen fanden es gut und spannend – und weil es ein schöner sonniger Tag war, hab ich den Studierenden bis zum Nachmittag frei gegeben, um die Stadt zu erkunden und wollte selbst ein bisschen wandern und nachdenken. Außerhalb Bethlehems kann man schön wandern in den Hügeln und kleinen Wäldchen. An einer kleinen Rastbank hab ich mich erst mal in die Morgensonne gesetzt und die Augen geschlossen, um mir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und auszuspannen. Irgendwann bin ich wohl wieder wach geworden und habe beschlossen weiterzugehen. Ein schmaler unge-. teerter Schotterweg entlang Waldstücken und abgeernteten Feldern, schön zu gehen in der Sonne. Aus der Ferne hörte man ab und zu die Bethlehemer Musikkapellen üben für Weihnachten. Als ich um eine Wegbiegung kam, sah ich vor mir auf demWeg ein Kind oder einen Jugendlichen, so genau konnte ich das noch nicht erkennen, aber es war deutlich zu sehen: Weiße Klamotten, ein Kleid eigentlich, und hinten ein paar beeindruckende weiße Flügel! Ich musste fast ein bisschen lachen. Engel zu Fuß unterwegs. Gäbe jetzt ein cooles Foto. Bestimmt ein übender Weihnachtsspieldarsteller, der zu faul war, sich für den Heimweg umzuziehen. Als ich näher kam, konnte ich aber erkennen: Das weiße Kleid war ziemlich voll Erde und ein bisschen zerschlissen, als ob der Träger eine Böschung heruntergerutscht wäre. „Hey, was ist mir dir, hattest du einen Unfall? Kann ich dir helfen? Hat dich jemand angefahren?“, sagte ich. Die Person vor mir drehte sich um. Ob es ein Mädchen oder ein Junge war, konnte ich immer noch nicht so genau unterscheiden. „Nein, nichts passiert! Ich finde nur die Erde so wunderbar, schau mal!“, und mit diesen Worten hüpfte mein Gegenüber ins danebenliegende Feld, warf sich auf den Boden und rollte ein paarmal fröhlich glucksend über die Erde, bis er oder sie ganz voll Staub war. Ich war erst mal sprachlos und musste ehrlich gesagt an meinen kleinen Hund denken, wenn der sich vor Freude über ein Feld rollte. Genau so sah das aus: glücklich, voll Freude – aber ein bisschen strange. „Na dann“, sagte ich „schönen Tag dir!“, und begann weiterzugehen. War mir echt nicht sicher, was ich sonst tun sollte. Ich überlegte still: Was soll ich jetzt tun? Aber dann merkte ich, dass meine sonderbare Wegbegegnung wieder aufgestanden war und zu mir aufschloss. „Ich geh ein bisschen mit, wenn du einverstanden bist.“ sagte er oder sie. „Klar, gerne!“, antwortete ich und so gingen wir ein paar Wegbiegungen schweigend in der Sonne nebeneinander. „Übst du?“, fragte ich und wollte hören, wo der kleine Darsteller mitmachte. „Nein, ich hab das schon 1000-mal gemacht“, bekam ich zur Antwort. Ich dachte nur „kleiner Aufschneider!“, und wir gingen weiter. Ich wollte irgendetwas Näheres erfahren und vielleicht auch endlich herausbekommen, ob Junge oder Mädchen, also fragte ich: „Wie heißt du?“ … die Antwort war ein für mich unaussprechlicher Name, und ob Mädchen oder Junge konnte ich daran auch nicht ablesen. Wir gingen weiter, das war in der Sonne zu zweit, trotz meiner Fragen irgendwie schöner als alleine. Allerdings: Zwei-, dreimal wiederholte sich das, was ich eben staunend gesehen hatte: Ein Sprung ins Feld, ein paarmal wohliges Rollen über den Boden, jede Menge Staub und Dreck auf Kleid und Flügeln und dann ging’s „normal“ weiter! Als wir an eine Stelle kamen, wo der Weg wegen der Felsen sehr schmal wurde, mussten wir hintereinander gehen und ich ließ mein Gegenüber vor. Als ich mir beim Gehen so die Flügel anschaute, suchte ich nach der Befestigung, denn die waren beim Rollen immer drangeblieben. Aber ich fand keine! Nicht der geringste Hinweis auf einen Gurt oder so was! „Hast du’s jetzt endlich bemerkt?“, hörte ich von vorne sprechen, ohne dass sich mein Wegpartner umdrehte. „Ich bin das, was ihr bei euch ‚Engel‘ nennt – aber ein kleines Exemplar!“ „– und ein komisches“, dachte ich mir.
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