413 Feste Er sprach weiter: „Ich liebe die Erde – und deshalb gehe ich gerne zu Fuß! Ihr schaut immer nach oben – zu den Überfliegern! Aber das Wichtigste passiert doch hier!“ Ich wäre beinahe gestolpert, weil ich mich fast nur aufs Hören konzentrieren konnte. „Weißt du, warum ich die Erde liebe?“, fragte der Engel und sprach weiter: „Ich war bei der Geburt dabei! Als einer von vielen Engeln, die das feierten. Du weißt doch, ihr sagt ‚die Heerscharen‘ … na ja, Ich bin wohl ein bisschen zu übermütig gewesen und bei einem gewagten Flugbogen hab ich die Kurve nicht gekriegt und bin im Stall auf dem Bauch gelandet – direkt vor dem kleinen Gotteskind. Als ich aufblickte, hab ich zuerst seine Hand gesehen. Es hatte Erde in der Hand!! Erde! Bei der Geburt auf dem Stallboden hat es wohl als erstes den Boden zu greifen bekommen, schwarze, streng riechende Stallerde. Und seitdem geht mir die Erde nicht aus dem Kopf.“ Wir gingen schweigend weiter, ich musste mir das erst mal vorstellen. Zwischen den Hügeln hörte man immer wieder mal ein Lied aus Bethlehem heraufschweben, weil dort jemand übte. „Eigentlich brauch ich die Flügel gar nicht!“, sagte der Engel weiter. „Aber sie sind schön, wenn sie die Farben der Erde tragen! Ich will 10000 Farben zusammenkriegen! Schau mal“, und er streckte mir einen Flügel entgegen und ich konnte sehen, dass zwischen den Federn tatsächlich lauter kleine Erdpartikel in ganz verschiedenen Farben steckten. Es sah tatsächlich irgendwie sehr schön aus. Warme erdige Farbtöne in allen Schattierungen. Manchmal etwas glitzerig, manchmal tief und dunkel. „Wo warst du denn schon überall?“, fragte ich. „China, Südamerika, Russland und Ukraine, besonders gerne im Iran, denn da komme ich her. Gelbe, rote, schwarze Erden habe ich schon, graue und sogar grünliche – aber es gibt noch so viele!“, antwortete er mir. „Aber weißt du was? Ihr Menschen werdet doch immer verrückter mit euren Zäunen! Eigentlich würde ich den ganzen Weg gerne zu Fuß gehen, aber ich brauche meine Flügel immer öfter auch wieder zum Fliegen! Weil ihr nichts besseres im Kopf habt, als eure Probleme mit Zäunen zu verdecken. Schau nur mal da runter!“, und er zeigte auf Bethlehem, das man zwischen zwei Felsen gerade schön sehen konnte – durchzogen von einer zickzacklaufenden grauen, hohen Mauer. „Und noch etwas:Was habt ihr nur mit euren weißenWesten? Immerzu wollt ihr bei allem eine weißeWeste haben! Oder Überflieger sein. Makellos! Vergesst das doch einmal! Was ist denn so schlimm, wenn irgendwo mal ein dreckiger Fleck drauf ist, oder nicht alles makellos ist? Die Erde ist anders!“, und mit diesenWorten warf er sich in ein neben uns liegendes ziemlich dunkelerdiges Feld und ich durfte ihm ein bisschen beim fröhlichen Rollen zuschauen. Irgendwie hätte ich sogar gerne mitgemacht, es sah so glücklich und zufrieden aus. Wir gingen weiter. Ich konnte nichts sagen und musste nachdenken. Aber selbst zum Denken fehlten mir die Worte. „Ich sag dir mal was.“, sagte der Engel irgendwann mit versonnener Stimme und ich merkte, dass ihm jetzt wichtig war, dass ich zuhöre. „Als wir Engel nach der Kreuzigung den toten Körper von Jesus bewachten, da hatte ich die Füße. Sie waren schwarz vom Dreck der Straße. Mich hat das sofort an die Geburt erinnert. Und als er dann von Gott auferweckt wurde und später in den Himmel aufgefahren ist – da hat er den Dreck mitgenommen!“ „Verstehst du jetzt, warum ich die Erde liebe?“, fragte er, „seitdem kugele ich gerne auf dem Erdboden.“ Ich hätte nun noch stundenlang mit dem Engel weitergehen können, aber der Weg führte langsam wieder zurück. Ich ging etwas langsamer, damit wir noch nicht so schnell am Ende ankamen. „Ich erzähl dir nochwas“, sagte er. „Viele Jahre später hatten wir einmal wieder eine himmlische Versammlung. Du weißt schon, so was ähnliches wie bei euch. Und sogar ähnlich aufgebaut: Vorne stehen die ganz wichtigen und großen, die Cherubim. Dann die bedeutsamen Engel, die Herausragendes geleistet haben usw. Und ich, natürlich, den anderen bin ich mit meinen Erdresten ein bisschen peinlich und außerdem bin ich ja klein – ich stehe also ganz hinten. Und mittendrin in den Ehrungen und Reden höre ich plötzlich seine Stimme, die von Jesus: ‚Du, da hinten, ja du, komm mal bitte her!‘ Als ich vorne war, sagt er laut, so dass es alle hören konnten: ‚Mein lieber dreckiger Engel! Wenn ich mir dich so anschaue: du hast mich am besten verstanden!‘“ An einer sonnigen Stelle stand wieder eine Rastbank und wir setzten uns hin – ganz schön viel Nachdenkstoff für mich! Der Engel summte eine kleine Melodie und ich schloss die Augen. Als ich aufwachte, war er weg. Schade, aber neben mir auf der Bank lag ein gelber Erdkrümel. Ich hab ihn nicht weggefegt. Michael Schlierbach
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