Jahrbuch 2018-2019

450 Feste Abiturverleihung Schloss Neubeuern 29. Juni 2019 Liebe Abiturienten, schön, dass ihr noch da seid! Aber wer mich kennt, weiß, dass jetzt eine harte Zeit kommt – wo ich übrigens unwillkürlich meistens Blues-Mu- sik höre – denn es beginnt die Zeit, wo ich langsam merke: Ihr seid weg, ausgeflogen, unterwegs auf eurenWegen und eben nicht mehr hier. Das finde ich schon schade. Ihr müsst euch das so vorstellen: Man ist mit euch ein paar Jahre zusammen unterwegs gewesen, dann kommt das Abitur und man strengt sich nochmal an, man ist mit euch in eine Kurve gegangen zum Abitur hin – und dann seid ihr plötzlich weg!! Ist ja auch ok, euer Weg führt hinaus, und auf das haben ja alle hingearbeitet und es ist gut so, aber unser Weg geht halt weiter in der Kurve und wieder zurück hierher. Vielleicht fragt ihr euch, warum ich das mit der Kurve so sehe – es ist so, weil ich Kurven und Bögen einfach fas- zinierend finde und euch heute einen Gedanken an Bögen mitgeben möchte, eigentlich ein Bild, noch genauer: ein Ar- chitekturbild. Ich richte die Kurve praktisch vom Boden nach oben auf. Schaut euch dieses Bild hier an. Es zeigt ein paar Säulen in der Mezquita-Catedral von Cordoba. Mezquita-Catedral ist ein zusammengesetztes Wort und heißt Kathedralmoschee oder Moscheekathedra- le. Das ist so, weil es ursprünglich eine muslimische Mo- schee war und dann zu einer christlichen Kathedrale um- funktioniert wurde. Es ist eines der faszinierendsten Bauwerke, das ich ken- ne, erhaben, aber auch ein bisschen schmerzhaft. Vom Erha- benen möchte ich euch erzählen. Es ist ein riesen Raum von 23000 Quadratmetern und das Dach wird getragen von 856 Säulen. Und um die Besonderheit dieser Säulen geht es! Wenn wir an Säulen denken, dann eigentlich meistens an Charts, also wie viel jemand vovon besitzt, was er erwirt- schaftet hat usw. Oder an Wachstumskurven, die bei uns aber am liebsten nur nach oben gehen sollen, niemals wie- der runter, und an Wolkenkratzer, bei denen es einen Wett- bewerb gibt, wer den höchsten Wolkenkratzer zu seinem Besitz oder wenigstens zu seiner Nation zählen kann. Das führt dazu, dass unsere Säulen immer wie Nadeln oder Speere in den Himmel stechen – und darüber hinaus meistens einzeln, ohne Verbindung miteinander sind. Oder habt ihr schon viele Hochhäuser gesehen, die (wenn sie nicht ein- und demselben Besitzer gehören) irgendwo in der Höhe eine Verbindung zum anderen Hochhaus haben? Sie scheinen immer zu sagen: „Wir sind besser, wir sind klüger, wir sind entwickelter, wir sind wichtiger, wir sind rei- cher als die anderen!" Die Säulen in so einem Säulenwald sind anders: Sie tra- gen gemeinsam etwas, das Dach – sie umspannen einen Raum, ohne ihn durch Wände zu trennen – sie sind verbun- den. In diesem Fall sind die Säulen durch große, schöne Bögen verbunden. Und ich folge ihnen gerne einmal in ihrer Bewegung: Da steigt eine Säule auf, erhebt sich in die Luft, und setzt an zu einem Bogen – aber, um die andere Säule zu treffen und mit ihr Verbindung aufzunehmen, muss der Bogen auch wieder runter, niedriger werden, um zusammen mit der anderen Säule ein harmonisches Traggerüst zu bil- den.

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