Jahrbuch 2018-2019
469 Feste Aber wenn sich jetzt irgend jemand besser fühlt als die anderen, weil er das nicht tut – da muss ich alle enttäuschen! Wir sind es nicht! Wir sind eine schriftliche, unpersönliche Kul- tur geworden und zwar schon lange. Man kann von hier bis in ein kleines Kaff an der Ostsee mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, ohne auch nur mit einem einzigen Menschen zu spre- chen! Es steht ja überall alles geschrieben. Und manche Menschen schicken einen, statt zu ant- worten, lieber zum nächstenTerminal oder Fahr- plan, damit man es selbst liest. Oder. Wo schauen wir zuerst hin, wenn wir einem Menschen begegnen?Wirklich in die Au- gen? Oder doch eher auf die (teure oder nicht so teure) Uhr, die Bekleidungsmarke, die Fitness? Und wir sind alle reich: Dem Kaffeeernter schauen wir lieber nicht ins Gesicht, denen, auf deren Land unser Biosprit angebaut wird, auch nicht. Und den Putzfrauen, die unsere Räume reinigen? Schauen wir denen in die Augen? Dabei könnten wir so vieles dank unserer digitalen Technik! Wir könnten beim morgend- lichen Kaffee auch dem Erntearbeiter in der Kaf- feeplantage eine Message schicken: „Hey, dein Kaffee schmeckt gut! Wie geht es dir?“ Aber: Wir tun es nicht! Die digitale Nähe könnte ein Segen sein! Könnte … Und vielleicht werden wir selbst darunter leiden, wenn wir nicht etwas tun. Vielleicht sind wir schon gar nicht mehr weit davon ent- fernt, dass uns die Gesichtserkennung unserer Türöffner, unserer Überwachungskameras und unserer Handys öfter anschauen als echte Men- schen! Wollen wir das? Noch ist es Zeit, dass wir eine Tradition des Anschauens wieder hervorholen – so wie wir Namen und Gesichter erinnern der Verstor- benen dieses Jahres. Wir sollten alle einander mehr in die Augen sehen, nicht mehr so sehr das Drumherum, nicht die sekundären Dinge, die uns bestim- men. Jede/r hat zwei Augen und Gott sei Dank ha- ben die keine Markenbezeichnungen und sind nicht bestimmt von dem, was eine/r hat und kann, sondern einfach nur vom Mensch sein. Ich wünsche Ihnen und euch heute und im- mer viele schöne Augen-Blicke! Michael Schlierbach
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