100 SCHULE 4 Schloß- und Schulgeschichte bis 1948 Der Beginn der Ära Josef Rieder - Bilder ARCHIV Als im Jahre 1896 die 25-jährige Gräfin Julie von Degenfeld-Schonburg den etwa doppelt so alten Jan Freiherr von Wendelstadt geheiratet hatte, war noch nicht abzusehen, daß sie einmal Gründerin einer Internatsschule werden würde. Doch bereits im Jahre 1908 begann ihr zunächst so glückliches Schicksal sich zu wenden. Ihr Bruder Christoph Martin starb und hinterließ eine junge Mutter mit einem gerade geborenen Kind. Baron Wendelstadt nahm sich seiner verwitweten Schwägerin, der Gräfin Ottonie von Degenfeld, an, schenkte ihr das zu Schloß Neubeuern gehörige Gut Hinterhör bei Altenbeuern und ermöglichte ihr und ihrer Tochter Marie-Therese ein zumindest von finanziellen Sorgen freies Leben. Doch der Wohltäter selbst erlag ein Jahr später, 1909, einer tückischen Krankheit und ließ seine Frau kinderlos zurück. Die beiden Witwen standen zunächst wie erstarrt vor den Trümmern ihres Lebens. Doch der gesellschaftliche Rahmen, der auf Schloß Neubeuern schon zu Lebzeiten des Barons gepflegt worden war, trug zur Genesung der beiden Frauen bei. Immer wieder waren zur sogenannten „Neubeurer Woche“ - um die Jahreswende - Künstler, Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingeladen worden. Man plauderte, diskutierte und betrieb geistigen Austausch. Vermittelt durch ihren Schwager Eberhard von Bodenhausen kam so auch der Dichter Hugo von Hofmannsthal 1909 nach Neubeuern. Seine Bekanntschaft mit Ottonie von Degenfeld führte nach kurzer Zeit zu einer intensiven Freundschaft, die von allen Bewohnern des Schlosses als bereichernd empfunden worden ist. Hofmannsthal brachte im Laufe der Zeit viele seiner Freunde mit auf das Schloß, u.a. die Dichter Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder. Weitere Schicksalsschläge aber waren der 1. Weltkrieg und die darauf folgende Zeit der Inflation. Nachdem sich die Baronin und ihre Schwägerin in ihrem privaten Leben gerade wieder stabilisiert hatten, brachte das politische Leben eine Gefährdung ihrer materiellen Existenzgrundlage. Das Schloß war nicht mehr zu finanzieren. Bei gemeinsamen Überlegungen mit den Freunden, wie man das Problem lösen sollte, war es wieder Hofmannsthal, der helfen konnte. Er riet zur Gründung einer Internatsschule im Schloß. Am 1. März 1925 gründete man die Schule offiziell unter dem Namen „Schülerheim Neubeuern“ im Hotel Marienbad in München. Und so wurde die BaroninWendelstadt - „kinderlos“ im privaten Sinne desWortes - doch im Laufe der kommenden Jahre zu einer der kinderreichsten Frauen ihrer Zeit, denn die meisten ihrer Schülerinnen und Schüler haben sie als fürsorgliche „Mutter“ erlebt. Und so hat sich das Schicksal der ehemaligen Hofdame wiederum gewendet und ihrem Leben für die zweite Hälfte einen neuen Sinn und viel Freude beschert. Durch gesellschaftliche Beziehungen zu Prinz Max von Baden, der wenige Jahre zuvor (1920) in seinem Schloß Salem mit dem Pädagogen Kurt Hahn als Leiter ein Internat gegründet hatte, wurden die ersten Schüler nach Neubeuern vermittelt. Und als ersten Leiter des „Schülerheims Neubeuern“ konnte man den bis dahin an einem Schweizer Internat in Zuoz tätigen Pädagogen Josef Rieder gewinnen. Der tatsächliche Schulbeginn fand dann am 5. Mai 1925 mit 34 Schülern statt. Das pädagogische Konzept des „Schülerheims Neubeuern“ war ein durchaus eigenes, individuelles. Dr. Alwin Müller hat dieses Ideal einmal folgendermaßen beschrieben: Man wollte seine Schüler als „educated“ entlassen. „Being an educated person aber heißt nichts anderes als sich in allen Lebenslagen recht zu benehmen wissen.“ Es ging um „Gesinnung“, um die „Höflichkeit des Herzens“ und um „self-control“, d.h. eine Haltung, mit der man „das eigene Gefühl im Banne hält“. Direktor Rieder wiederum war ein Anhänger des Pädagogen Georg Kerschensteiner (1854-1932). Kerschensteiner vertrat schon recht früh - entgegen der
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