Jahrbuch_2020-21

112 SCHULE 16 NSDAP und das Landschulheim Neubeuern Die kriegsbedingten Einschränkungen im Schul- und Heimbetrieb wogen zunächst nicht sehr schwer; und gegenüber der rasch ansteigenden Zahl von Todesmeldungen von den Fronten half ein wenig die weitverbreitete Meinung, daß der Endsieg bald komme. So lebte es sich in Neubeuern, ob im Schloß, ob im Dorf, noch eine ganze Zeit lang wie auf einer Insel des Friedens. Auch das Eindringen und die Aufnahme der neuen von der NSDAP seit der Machtübernahme ausgehenden Gedanken und Formen konnte die bis dahin gefestigt in sich ruhende Welt - ob die der Schloß-Gesellschaft oder die der Kleinbürger und Bauern im Dorf - nicht erschüttern. Ohne sichtbare Zeichen der Ab- oder Auflehnung oder etwa einer großen Begeisterung nahmen es breitere Schichten hin, daß sich - zum Beispiel – den bisher allein geltenden religiösen oder ländlichen Festtagen nun die neuen nationalsozialistischen Feiern hinzugesellten ... oder daß es jetzt Umzüge und Aufmärsche gab, an denen sich Schloß und Schule und Marktgemeinde und bäuerliche Umwelt gemeinsam beteiligten. Die zur Toleranz bereite Gesamtstimmung nahm es mit hin, daß es jetzt im Lehrerkollegium den PG. und den Nicht-PG. gab; die Kontrastierung der Anschauungen nahm nie gewalttätige Formen an, und die heitere Gesprächsrunde im Café Weinberg ließ sich in ihren Themen nicht beirren. Innerhalb der Schülerschaft war es ähnlich. Schon vor dem 30. Januar 1933 hatte es damals noch illegal und “eigentlich” verboten - den Zusammenschluß einer Handvoll Begeisterter zu einer Hitlerjugend-Organisation - gleichsam im Untergrund - gegeben. Sie störte nicht; warum hätte man sie verfolgen sollen? Und als sie auf einmal “Staatsjugend” geworden war, fügte sie, bei allem Stolz auf ihre Eigenständigkeit, ihren Dienstplan in den Tagesablauf der Heim-Ordnung. Der Gegenspieler Noch schien es der Schloß- wie der Schul-Leitung möglich, mit einer Politik der kleinen Schritte durchzukommen. In Hitlers 25-Punkte-Programm gefielen die deutsch-nationale Komponente und die Sorge für die Jugend so sehr, daß man sich ganz d‘accord fand. Auch in der Ablehnung der “entarteten” Kunst ging man konform. Der unerfreulichen Kirchenfeindlichkeit gegenüber fühlte man sich im eigenen religiös noch ganz intakten Bezirk unangreifbar - und mit dem Antisemitismus mußte man sich zunächst nicht befassen. Fügt man bei der Baronin hinzu ihre felsenfeste Überzeugung, daß der “braune Spuk” bald vorbei sei, und bei Direktor Rieder den Glauben an die Unantastbarkeit einer Person, die, wie er selbst, pflichtgetreu, anständig, rechtschaffen ist - nur dann läßt sich das traumwandlerische Sicherheitsgefühl erklären, mit dem sie von hoher Warte aus (oder: weit vom Schuß) sich und ihre Position für unangreifbar hielten. Und wirklich war das in dem stillen Provinzwinkel lange so. Aber es änderte sich von dem Tag an, wo im Dorf der Ortsgruppenleiter der NSDAP seine Machtposition auf- und ausbaute und in der Durchführung seiner Aufgaben (zum Beispiel die Überwachung der politischen, sozialen, religiösen, weltanschaulichen Einstellung der Mitbürger) Spitzel bestellte, Zuträger gewann, unbedacht-private Äußerungen sammelte, Anzeigen aufnahm und an den Kreisleiter weitergab - in der Weise, daß bald aus ihm, dem an sich harmlosen und unbedeutenden Mann, der gefährliche Wächter, der gehässige Gegenspieler zum “Schloß” und den mit dem Schloß und der Schule irgendwie verbundenen Menschen wurde. Umso bereiter nahm er jedes Gerücht, auch jeden Klatsch auf, als er damit Waffen gegen “die da droben” in die Hand bekam. Soll man sich anschließen? Im Landschulheim Neubeuern wäre man noch lange des Glaubens geblieben, mit einer vorsichtigen und schrittweisen Annäherung an die “Gleichschaltung” sei der Fortbestand der Schule gesichert - wenn nicht aus anderen Heimen Gerüchte oder Nachrichten gekommen wären: von sehr harten Auseinandersetzungen mit Parteistellen, von großen Befürchtungen, von Sorgen um das Überleben privater und noch dazu sehr eigenwilliger Schulen in einem Staat, der die Erziehungsaufgabe absolut und allein in seine Hand nehmen wollte. Ein Anstoß von außen rief jetzt auch die Neubeurer Leitung auf, die Gefährdung zu bedenken, die im Alleingang lag, und die Frage zu prüfen, ob sich nicht mit einer gemeinsamen, organisierten Annäherung der Heime an den NS-Staat gewisse Sicherheiten für den Fortbestand gewinnen ließen. “Auf Grund einer Anregung von Dr. Th. Lehmann, dem Leiter des Landschulheims am Solling, wird darüber beraten, wie sich das LSH Neubeuern zu einem Zusammenschluß der Landerziehungsheime in einer Fachschaft des NSLB stellen soll. Voraussetzung für die Aufnahme eines Heims in den Bund soll nach den Ausführungen Dr. Lehmanns sein: rückhaltlose Bereitschaft, die Heimerziehung auf die Ziele des Dritten Reiches hin auszurichten, dafür soll den Heimen als Besonderheit bewahrt bleiben: die Aufrechterhaltung der Selbstverantwortlichkeit und die Übernahme persönlichen Wagnisses. Ein Entwurf der Richtlinien, wie sie von Dr. Lehmann mit dem Gauschulungsleiter und Reichsbeauftragten Studienrat Gundlach in Hamburg besprochen sind, liegt zur Besprechung vor. Nach eingehender Erörterung der einzelnen Punkte wird beschlossen, der Einladung zur Tagung der Leiter der deutschen Landerziehungsheime in Frankfurt am Main am 24. März 1935 Folge zu leisten. Da der Direktor in dieser Zeit nicht abkommen kann, wird Dr. Müller mit seiner Vertretung beauftragt.” Protokoll der Lehrerratssitzung am 21.3.1935 20 Uhr. Fiel es schon den Leitern der anderen Heime nicht leicht, zuzusagen, von nun an“ die Heimerziehung rückhaltlos auf die Ziele des Dritten Reichs auszurichten”, so hatte es der Vertreter Neubeuerns besonders schwer, entsprechende Erklärungen abzugeben - zumal einige Teilnehmer von einem Mit-Tun Neubeuerns eine Verschlechterung, eine Belastung der eigenen Position befürchteten. Sollten sie sich jetzt gleichstellen

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