115 SCHULE 19 Die Gespräche der Schüler drehen sich um die bevorstehende Schitour, die der Erwachsenen um die Frage: “Wie solls weitergehen?” - denn daß die Existenz der Schule schon seit längerer Zeit sehr gefährdet ist, scheint allen klar. Der Chef ist in Berlin, um drohenden Gefahren durch Vermittlung von Schüler-Eltern und Freunden der Schule bei Reichs- und Parteidienststellen zuvorzukommen. Die tägliche Post ist noch nicht abgeholt. Da fährt ein Parteidienstwagen mit mehreren Braununiformierten vor: eine Kommission der Kinderlandverschickung will die Räume des Landschulheims besichtigen, die jetzt nach der Auflösung der Schule zur Verfügung stünden! Die Parteistellen haben einander überholt im Zugriff auf Neubeuern - oder war es nur ein kleiner Regiefehler in der Tarnung des Anschlags? Jedenfalls müssen sich die Herren erst höchst eigenhändig aus der Post unten im Dorf den eingeschriebenen Brief herausgeben lassen, den sie als Unterlage für ihren rigorosen Auftritt im Büro brauchten. Noch ein paar Minuten Verzögerung: als schulischer Vertreter hatte ich ja nicht das Recht, den an den Chef persönlich gerichteten Brief zu öffnen. Nach langem Zögern, auf das ungeduldige Drängen der Vollstrecker hin, tat es die Tochter des Chefs: “Sofortige Schließung des Landschulheims Neubeuern, verfügt vom Kultusminister und Gauleiter Wagner”. Stunden schwerster Nervenanspannung, bis Direktor Rieder, telefonisch verständigt und nach vergeblichen Versuchen, von Berlin aus die willkürliche Entscheidung rückgängig zu machen, am nächsten Tag zurückkam und Lehrern und Schülern den Räumungsbefehl bekanntgab. Fassungslose Niedergeschlagenheit, hastige Abreisevorbereitungen, Galgenhumor, Hoffnungsschimmer - und immer wieder Gespräche, Pläneschmieden und viele ungelöste Fragen. Manche der Betroffenen wußten gar nicht, wo und wie sie ihre Eltern zu diesem Zeitpunkt erreichen konnten! Der Telefonverkehr, damals noch handvermittelt über Brannenburg, brach zusammen. Keine der amtlichen Stellen-Fahrkartenausgaben, Gepäckabfertigung, Gemeindekanzlei (für die Lebensmittelkarten) war dem plötzlichen Ansturm gewachsen. Überall mußten unsere Schüler als Helfer einspringen - bis zur Abstellung einer Nachtwache der im Freien gestapelten Gepäckstücke im Bahnhof Raubling! Ein einziger Trost: in der Bewältigung der außerordentlichen Situation bewährten sich Geist und Erfahrung der Heimgemeinschaft. Trotzdem ging in der sinnlosen Hast der Auflösung vieles verloren, mußte manches zurückgelassen werden: Sportgeräte, Musikinstrumente. Die gesamte Ausstattung mit Schulbüchern mußte vernichtet werden, da sich in der kurzen Frist kein Abholer finden ließ. Alle Bemühungen des Chefs, in München eine Verlängerung der Räumungsfrist zu erreichen, blieben erfolglos. Als er in Berlin endlich einen Aufschub um drei Wochen erreichte, stand das Haus schon fast leer. Es stand noch Monate leer - womit sich die Anordnung der sofortigen Räumung als reine Partei-Willkür erwies! Mehr und mehr Einrichtungsgegenstände und zurückgebliebene persönliche Sachen verschwanden, bis endlich (etwa ein Jahr später) eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt (NAPOLA) ihren Betrieb aufnahm. Lange dauerte es aber auch noch, bis die in alleWinde verstreuten Schüler und Lehrer, die als politisch verdächtig nur einzeln und mit Mißtrauen und unter Vorbehalten an anderen Schulen aufgenommen wurden, ein oft nur provisorisches Unterkommen gefunden hatten .... bitterer Vorgeschmack der größeren Zerstörung und tiefergreifenden Auflösung, die noch bevorstand.” Dr. Karl Wüst Lehrer von 1936 bis 1941 13.2.1941 - Richard fuhr am frühen Morgen ins Wehrbezirkskommando nach Rosenheim. Beim Abfahren hörte er noch ein donnerartiges Getöse vom Schloßberg herunterschallen - ein Teil der Terrasse war abgerutscht: wie ein Vorzeichen .... Am Vormittag traf im Direktorat ein Brief ein von Gauleiter Wagner, der die sofortige Schließung der Schule anordnete. Eine Hamburger Schule soll dort evakuiert werden und hier einziehen. Das ganze Schloß ist beschlagnahmt worden! Abends war Klavierkonzert auf zwei Klavieren vor noch nichts ahnenden Lehrern und Schülern. Danach kurzes Zusammensein im Schloß. Der Direktor war verreist. 14.2.41 - Beim Mittagsappell teilte der Chef in einer kurzen Ansprache den versammelten Schülern die Schließung der Schule mit. Die beispielhaft tapfere Haltung des Chefs, seine mannhaften Worte, mit denen er die Schüler aufforderte zu tadelloser Disziplin und warnte vor jeder Art von Gefühlsausbrüchen, waren so beeindruckend, daß vielen Schülern und Lehrern die Tränen kamen, besonders als der Direktor es mit klarer und fester Stimme aussprach, daß er seine Jungen alle wie ein Vater geliebt hat. 15.2.41 - oben in der Schule wird fieberhaft gepackt, denn baldigst muß alles fort sein.Wir gingen am Nachmittag hinauf. Überall Beweise rührender Anhänglichkeit. Auf dem Handwagen, der vor unserem Haus stand, hatte eine Jungenhand mit Kreide geschrieben: „Viele tausend Grüße!“ Moritz von Hessen verkaufte uns für zehn Mark sein Fahrrad, das jetzt Hans-Wolfram gehören soll. Er erzählte, daß er seiner Mutter, der Mafalda von Hessen, etwas Zucker nach Rom mitnehmen wolle, der sei dort so knapp. Für den Abend war ein Abschiedsgottesdienst im Herrenzimmer im Schloß angesetzt. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wurde besonders dadurch betont, daß auch die Baronin mit ihren Damen gekommen war und der Direktor mit seiner Familie. Richard predigte über den Text: Laßt euch nicht durch mancherlei fremde Lehren umtreiben; es ist ein köstliches Ding, daß das Herz fest werde.. Das Bibelwort übte eine große Wirkung auf die erregten Gemüter aus. Am deutlichsten äußerte sich das, als dann als Antwort auf das schwere Geschehen der letztenTage von allen gesungen wurde „Eine feste Burg ist unser Gott“. Nach Schluß der Andacht verabschiedeten sich schon viele Schüler, teils tapfer, teils außerstande, ihre Ergriffenheit undTrauer zu meistern. 16.2.41 - gleich elf Uhr abends. Eben sind wir mit dem Packen fertig. Richard wird wieder Soldat, er muß
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