Jahrbuch_2020-21

130 SCHULE aus irgendeinem Grund nach meiner Mutter gefragt und dabei von meiner „Frau Mutter“ gesprochen. Für mich eben „vornehm“. Unterricht hat er in unserem Zug nicht gegeben. Auch Hundertschaftsführer Wurms nicht, der ihm als Anstaltsleiter folgte. Zu Wurms fällt mir eigentlich nur ein, dass er eines Tages nicht mehr da war. Dem Vernehmen nach war er zur Wehrmacht eingezogen worden. Wenn ich mich recht erinnere, kam eines Tages die Nachricht, dass er gefallen sei. Während die beiden Genannten so gut wie keinen messbaren Eindruck hinterlassen haben, trifft dies bei den jetzt folgenden nicht zu: Kiessling, Luckinger, Kamradek, Stadelmann. Dr. Seehase, Dr. Rahm. Hauptzugführer Kiessling hatte uns im Lateinunterricht übernommen, nachdem wir schon ein Jahr lang von einem anderen Erzieher mit mäßigem Erfolg unterrichtet worden waren. Meine Lateinkenntnisse waren reichlich chaotisch. Ich glaube, bei vielen anderen auch. Ein Neuaufbau war bitter nötig. Kiessling ging diese Aufgabe ruhig und gelassen an. Unaufgeregt, ohne laut zu werden, vermittelte er uns das jeweils angesagte Pensum. Nachlässigkeiten ließ er nicht zu, aber wir hatten alle mehr oder weniger das Gefühl, gerecht behandelt zu werden. Natürlich wurden unsere Kenntnisse auch durch Klassenarbeiten überprüft. Für mich sah das im Resultat so aus (zum damaligen Zeitpunkt umfasste das Notensystem fünf Noten von 1-5): 5 - 5 - 4 - 3. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, als ich am Ende des Trimesters in Latein eine 3 auf meinem Zeugnis fand, in der Folge ein Grund für mich, motiviert in seine Unterrichtstunden zu gehen. Ich fand mich mit meinen Möglichkeiten und meiner Leistungsbereitschaft richtig eingeschätzt. Leider konnten wir von seinemUnterricht und seiner Methode der Wissensvermittlung nicht allzu lange profitieren. Auch er wurde zur Wehrmacht eingezogen, und schon kurz darauf erhielten wir die traurige Nachricht, dass er in Russland gefallen sei. Mathematikunterricht wurde uns von Zugführer Luckinger erteilt. So wenig, wie ich eine „herzliche“ Einstellung zu diesem Fach entwickelte, so wenig „herzlich“ war auch mein Verhältnis zu Luckinger. Das lag mit Sicherheit auch daran, dass ich als „Preusse“ einige Schwierigkeiten hatte, mich mit seiner robusten bayerischen Ausdrucksweise anzufreunden. Letztlich habe ich es immer vermieden, in seine Schusslinie zu geraten. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, hatte ich allerdings auch nie. Mit Zugführer Kamradek (Deutsch, Geschichte, Sport) hatten wir einen Erzieher, der uns wenig Kopfzerbrechen bereitete. Ausgewiesen als „Alter Kämpfer“ durch den Winkel auf dem rechten Ärmel seiner feldgrauen SS-Uniform, die er vorzugsweise trug, vermittelte er mir nicht den Eindruck eines glühenden Nationalsozialisten, der meinte, laufend seine Ideologie propagieren zu müssen. Außer im rein schulischen, also Unterrichtsbereich waren die Berührungspunkte reichlich spärlich. EinekleineBegebenheit imZusammenhangmit seinem Namen sei jedoch erwähnt: Als Klassenbuchführer hatte ich immer wieder damit zu tun, dass Erzieher nach Ende der Unterrichtsstunde den Klassenraum verließen, ohne die Stunde mit ihrer Unterschrift abgezeichnet zu haben. So auch dieses Mal. Sobald ich also nach Unterrichtsschluss die Möglichkeit hatte, begab ich mich zu seinem Privatzimmer. Anklopfen. „Herein.“ „Heil Hitler, Zugführer. Jungmann Doedter bittet um Ihre Unterschrift fürs Klassenbuch.“ Darauf Kamradek hinter seinem Schreibtisch, nicht barsch, nicht im Befehlston, auch nicht unfreundlich, aber bestimmt: „Wie heißt das, Doedter?“ Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht, war mein Gedanke. Als kleiner Jungmann war man sich ja nie sicher, immer alles richtig gemacht zu haben. Und dann fiel‘s mir ein: „Heil Hitler, Hauptzugführer.“ Das war‘s. Kamradek war am Vortag zum Hauptzugführer befördert worden. Draußen vor der Zimmertür meinte ein nachdenklicher Jungmann zu sich selbst, dass ein Erzieher ein kleines Stück seiner Souveränität eingebüsst habe. Äußerst souverän erschien mir in jedem Fall Zugführer Dr. Seehase zu sein. Er war erst nach uns zur NPEA Neubeuern gekommen, also nicht von Anfang an dabei. Im Militärdienst hatte er eine schwere Verletzung erlitten, war daher nicht mehr kv - kriegsverwendungsfähig. Den Anstaltsbetrieb mit seinem teilweise strikten militärischen Ablauf nahm er nicht so todernst, wie es sich vielleicht gehörte, und auch seinen Unterricht (u.a. Latein) gestaltete er mit lockerer Hand. So sind mir drei Begebenheiten in Erinnerung, die für mich schon damals seine Souveränität und sein Herz für uns Jugendliche dokumentierten. Obwohl man sich kaum vorstellen konnte, dass Neubeuern Ziel eines feindlichen Fliegerangriffes sein könnte, mussten wir uns bei Fliegeralarm sowohl nachts als auch tagsüber in den Keller begeben. An jenem wunderschönen sonnigen Junivormittag 1944 empfand Dr. Seehase diese Regelung als übertrieben. In seiner Eigenschaft als ZvD (Zugführer vom Dienst) für dieser Woche entließ er uns Freie, so dass wir die von einem Angriff auf München nach Italien zurückfliegenden Bomber beobachten konnten. (Ich erinnere mich noch an eine brennende Maschine, aus der vier Besatzungsmitglieder mit dem Fallschirm absprangen). Für einen Zwölfjährigen ein äußerst beeindruckendes Ereignis, das in seiner fast filmreifen Bildhaftigkeit den Krieg körpernah in die Idylle brachte, die Neubeuern - Dorf und Anstalt - trotz vieler kriegsbedingter Widrigkeiten darstellte. Ein zweiter für mich bemerkenswerter Vorgang spielte sich in einer Woche ab, in der ich die Funktion eines „Jungmann vom Dienst“ hatte. DieTätigkeit eines JvD bestand darin, die durch den Tagesablauf/Dienstplan vorgegebenen Zeiten durch Pfeifen anzuzeigen, so z. B. Beginn und Ende der Unterrichtsstunden, oder Raustreten zum Frühstück, zum Mittagessen oder zum Abendappell usw. Eine Klingelanlage gab es in der Anstalt nämlich nicht. Die Verantwortung für einen geregelten Tages- und Dienstablauf lag damit sozusagen in den Händen eines Zwölfjährigen. Der Jungmann vom Dienst - als Dienst mehr als unbeliebt - erhielt eine Trillerpfeife ausgehändigt, um die notwendige Uhr hatte er sich selbst zu kümmern. Und diese Uhr besaß ich nicht. InWerner Zwick, einem Zugkameraden, fand ich eine mitleidige Seele, die mir 34

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