Jahrbuch_2020-21

131 SCHULE 35 eine Uhr leihen konnte. Es war dies eine Taschenuhr, die allerdings einen Mangel aufwies: Der große Zeiger existierte nur als Stummel. Damit war ein genaues Pfeifen zur vorgegebenen Zeit reine Glückssache. Während es mir bis dahin gelungen war, trotz des Uhrenmankos die Zeiten einigermaßen genau einzuhalten, lag ich an einemTag jedoch zur Mittagszeit gut 20-30 Minuten hinter dem Zeitplan zurück. Zum Mittagsappell war die gesamte Anstalt vor der großen Freitreppe des Schlosses angetreten mit Blickrichtung auf das unter uns liegende Dorf mit seiner Kirche und der Kirchturmuhr, die die genaue Zeit anzeigte. Die Zeitabweichung war offenbar. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt und mich gefragt, in welcher Weise der unausweichliche „Anschiss“ ausfallen würde. Für mich kaum zu fassen - es passierte nichts. Beim Abmarsch zum Speisesaal trat Dr. Seehase wie beiläufig zu mir und meinte fast jovial: „Na, Doedter, mit der Zeit hat das wohl nicht richtig hingehauen.“ „Jawoll, Zugführer, ich weiß.“ Seine, wie ich empfand, fast freundschaftliche und verständnisvolle Bemerkung habe ich dankbar registriert. Bis zum Abend lagen die Zeiten wieder im Plan. Ich hatte (eigenmächtig) an verschiedenen Stellen des Dienstplans einfach Kürzungen vorgenommen - ohne Beanstandung. Ich erinnere mich dann noch an eine dritte Begebenheit, in deren Verlauf sich Dr. Seehase in unserer Gegenwart - Jungmannen des 3. Zuges - kritisch zur Uniform der Erzieher (brauner Rock, schwarze Hose - ähnlich der Uniform der NSDAP-Funktionäre) äußerte. Es muss im Verlauf eines Gespräches gewesen sein, in dem es über unser Verhältnis zur Neubeurer Dorfbevölkerung ging. Kontakte gab es so gut wie gar nicht, und wenn, waren sie eher distanziert als herzlich. In seiner Erzieheruniform fühlte sich Dr. Seehase bei Besorgungen im Dorf reichlich unwohl, denn er meinte: „Die (damit waren wahrscheinlich die Verantwortlichen in der Leitung der NPEAs in Berlin gemeint) sollen uns Erzieher doch statt in diesen Parteifräcken lieber in Wehrmachtsuniformen rumlaufen lassen. Wenn uns die Leute im Dorf sehen, meinen die doch alle, wir wären Drückeberger. Diese Äußerung war für mich damals Ausdruck eines gewissen vertraut Seins. So wie Dr. Seehase meines Wissens vor Neubeuern an keiner anderen NPEA unterrichtet hatte, so war für Zugführer, später Hauptzugführer Stadelmann auch Neubeuern Neuland. Während Dr. Seehase den gesamten Anstaltsbetrieb mit Lässigkeit absolvierte, hatte Stadelmann, der in seinen Fächern Latein, Griechisch, Geschichte für mich absolute Kompetenz an den Tag legte, im übrigen Betrieb mit Schwächen zu kämpfen. Es war nicht zu übersehen, dass Stadelmann sich schwer tat, dem militärischen Reglement zu entsprechen. In seinem Bemühen, alles hundertprozentig zu machen, wirkten manche seiner Aktionen leicht verkrampft, vielleicht auch leicht überzogen. Ich selbst hatte mal ein Erlebnis in dieser Richtung: An einem Sonntag, Stadelmann war GvD und damit ans Haus gebunden den, war ich aufgefallen, weswegen weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall bedeutete mir Stadelmann: „Doedter, nach dem Mittagessen meldest Du Dich stündlich bei mir - im Mantel.“ Im Mantel? Der Sinn dieser Anordnung blieb mir verborgen. Dass ich durch die stündliche Meldung darin gehindert werden sollte, den freien Sonntagnachmittag außerhalb des Schlossgebäudes zu verbringen, war klar. Aber imMantel?Wahrscheinlich sollte die Bestrafung durch den Mantel zusätzliches Gewicht bekommen. Pünktlich zu jeder Stunde zog ich mir also den Mantel an und begab mich zu seinem Zimmer. „Heil Hitler, Hauptzugführer, Jungmann Doedter meldet sich zur Stelle.“ „Wegtreten.“ Das war‘s dann jedes Mal. Übrigens, das Wetter war schlecht, nasskalt, ein typisch grauer Herbsttag. Für mich also überhaupt kein Anlass, das Haus zu verlassen. Mir kam der gesamte Vorgang in der damaligen Situation ziemlich unsinnig vor, im Zusammenhang mit dem Mantel sogar lachhaft. Bestätigte er doch einmal mehr meine (unsere) Meinung, dass Stadelmann Schwierigkeiten hatte, disziplinarisch angemessen zu reagieren. Was bei uns manch kritischen Kommentar hervorrief. Hinzu kam außerdem: Wir wurden nie das Gefühl los, dass sein Verhältnis zu den anderen Erziehern von einer gewissen Distanz zueinander geprägt war. Ich glaube auch, dass er mit seiner Entscheidung, Dienst an einer NPEA zu tun, nicht glücklich war.Trotzdem - für meinen Teil bleibt festzustellen, dass ich Stadelmann durchaus geschätzt habe. Wenn es unter denErziehern für uns d i eBezugsperson gab, dann war es in jedem Fall Hauptzugführer Dr. Rahm. Er war im ersten Jahr des Russlandfeldzuges als Infanterieoffizier schwer verwundet worden Dr. Erich Rahm und Frau Rahm DOEDTER

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