Jahrbuch_2020-21

132 SCHULE und nach Genesung wieder in den Anstaltsdienst nach Schulpforta zurückgekehrt. Er gehörte zu dem Lehrpersonal, mit dem Neubeuern als NPEA in Betrieb genommen wurde, und war für unseren Zug vom ersten Tage bis zum Kriegsende so etwas wie ein Klassenlehrer. Mit ihm haben wir in den fast drei Jahren unseres gemeinsamen Weges mehrfach Tageswanderungen ins umliegende Gebirge gemacht, waren zusammen zweimal im Skilager (ich habe neben ihm als Kiebitz bei Petroleumlicht das Skatspielen gelernt), und auch die Jahresabschlussfahrten mit Tornister und Übernachtung auf Berghütten (Pyramidenspitze, Brünnstein) fanden unter seiner Führung statt. Unser gutes Verhältnis - schon mal mit kleinen Enttäuschungen verbunden - hat auch dazu geführt, dass nach dem Krieg zu ihm und seiner Frau der Kontakt erhalten blieb. Als Ausdruck des guten Verhältnisses möge folgende kleine Geschichte dienen: Auf dem Weg vomSchloss zumDorf standeinEsskastanienbaum, der im Herbst voller Kastanien hing. Da wir Schüler immer Appetit hatten, reizten diese Kastanien natürlich. Mit der Folge, dass versucht wurde, mit Knüppeln oder ähnlichen Geschossen die Kastanien herunterzuholen. Die Ausbeute war gering, aber der Baum sah arg zerfleddert aus. Von der Anstaltsleitung erging ein Ukas: Der Baum ist tabu, keine Knüppel, kein Besteigen. Kurz darauf. In der Abendstunde ging unser Verwalter Wolter an besagtem Baum vorbei, und siehe da, was sah er trotz Dämmerlicht, hoch oben im Baum eine Person, kurze Hose, jungenhafte Figur, das Gesicht leider nicht erkennbar, jedenfalls ein Jungmann. „Kommst Du da runter!“ - Nichts rührte sich. „Kommst Du da wohl runter!“ - Weiterhin keine Bewegung. „Na warte, ich habe Zeit.“ Um 21 Uhr ertönte das Signal zum Nachtappell. „Jetzt wirst Du wohl runterkommen müssen.“ Nichts dergleichen. Stattdessen: „Jetzt pinkelt das Schwein auch.“ Weitere Zeit verging. Wolter unten, die Person oben. Bis dann irgendwann vor Mitternacht Fliegeralarm ertönte und Wolters seinen Platz unterm Baum räumen musste, um seinen Posten als Luftschutzwart einzunehmen. Der Weg vom Baum herunter und zum Schloss war frei für Dr. Rahm.Wenige Minuten später, als sich Schüler und Erzieher, unter ihnenDr. Rahm in vorschriftsmäßiger Uniform, im Keller einfanden, meinte Wolter zu letzterem: „Ich glaube, heute Abend ist Ihnen beim Appell eine unrichtige Anwesenheitsmeldung gemacht worden.“ Als Dr. Rahm einige Zeit danach schmunzelnd von seiner Baumeskapade erzählte, haben wir seiner Schilderung begeistert zugehört. Von Autoritätsverlust keine Spur, wir fanden es vielmehr toll, dass uns diese Geschichte überhaupt erzählt wurde. Irgendwie fühlten wir uns als Mitwisser einer nicht korrekten Handlung mit ins Vertrauen gezogen. Einfach toll. Dagegen hat folgende Begebenheit ein gewisses Unverständnis bei mir hervorgerufen, vielleicht sogar verbunden mit leichter Enttäuschung. Sonntagmorgen, nach dem Frühstück. Zusammen mit uns hatte Dr. Rahm als ZvD gefrühstückt. Direkt danach kamer zumir (ich war mal wieder Jungmann vom Dienst) und sagte: „Doedter, Du gehst jetzt zur Küche und lässt Dir dort mein Frühstück geben und bringst mir das dann in meine Wohnung.“ Ich war völlig überrascht. Ein zusätzliches Frühstück? Der hat doch gerade erst mit uns gefrühstückt! Wenn man weiß, dass wir Jungens Appetit als ständigen Begleiter kannten, dann war meine Reaktion nur zu verständlich. Ein zweites Frühstück hätte jeder von uns auch gern gehabt. Neid kam bei mir nicht auf. Aber beim Gang zur Küche und zur Wohnung tauchte in meinem Kopf die Frage auf, ob sich hier nicht eine Portion Unwissenheit in punkto jugendlichem Appetit offenbarte. Hätte Dr. Rahm sein zweites Frühstück selber besorgt, wäre es meiner Ansicht nach besser gewesen. So kam ich zu dem mit leichtem Unverständnis und Erich Doether Rückweg vom Brünnsteinhaus im Juli 1943 DOEDTER 36

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