133 SCHULE 37 leichter Enttäuschung einhergehenden Schluss, dass es, wie man heute sagen würde, ein wenig an der nötigen Sensibilität fehlte. Ich bin mit dieser Situation fertig geworden, indem ich mir sagte, so ist‘s eben, was soll‘s. Das Ansehen, das Dr. Rahm bei mir hatte, hatte nicht gelitten. Eine weitere Geschichte verdient Erwähnung. Zum einen zeigt sie, dass ein Jungmann durchaus zur Schlitzohrigkeit fähig ist, zum anderen zeigt sie aber ebenso das gute Verhältnis, das zwischen Dr. Rahm und unserem Zug auch bei vorübergehender Verstimmung bestand. Zum besseren Verständnis muss ich ein wenig ausholen. Beim nachmittäglichen Raufballspiel hatte mich ein gegnerischer Spieler so gerammt, dass ich auf dem Rücken landete und äußerst schmerzhafte Prellungen erlitt. Mit Mühe habe ich mich zu unserem Lazarett geschleppt, wo mir unsere Krankenschwester Maria erst einmal eine dreitägige Bettruhe verordnete, die ärztlich noch bestätigt wurde. Nach Ablauf dieser drei Tage fühlte ich mich wieder fit, aber dem zur erneuten Visite erschienenen niedergelassenen Arzt kannte das Schlitzohr Jungmann Doedter vermitteln,odass ein weiterer dreitägiger Lazarettaufenthalt angesagt sei. Ich habe diese drei Tage ohne Unterricht und Dienstbetrieb als Urlaub genossen. Gar nicht lange danach hatte der 3. Zug irgendetwas ausgefressen. Dr. Rahm war verärgert: „Der 3. Zug meldet sich nach dem Abendessen bei mir - mit Tornister, bepackt mit allen Schulbüchern.“ Ein Marsch ins Gelände unter erschwerten Bedingungen war damit angesagt. Kaum war das Abendessen beendet, ging‘s los, Tornister, unsere „Affen“ auf dem Buckel, hinein in die Abenddämmerung. Wir waren schon eine Zeitlang unterwegs, der Affe drückte nicht sonderlich, war also kaum eine Last, als Dr. Rahm zu mir kam: „Na Doedter, was macht der Rücken? Soll ich Dir den Tornister abnehmen?“ Das Schlitzohr Jungmann Doedter war hellwach: „Hauptzugführer, das wäre nicht schlecht.“ Ich war meinen Affen los, den fortan Dr. Rahm trug. Irgendwann verlor unser Marsch den Charakter einer Strafexpedition. Wir hielten an, und ein von Dr. Rahm vorgeschlagenes Nachtgeländespiel fand unsere begeisterte Zustimmung mit engagierter Durchführung. Erst weit in die Nacht hinein erfolgte der Rückmarsch zum Schloss. Wir kamen als Freunde zurück, 3. Zug und Erzieher. Sozusagen ein Herz und eine Seele. Einige Monate später - April 1945. Die gegnerischen Truppen waren bereits tief ins Reichsgebiet vorgedrungen. Das Kriegsende konnte nicht mehr fern sein. Trotzdem verlief der Anstaltsbetrieb noch in den gewohnten Bahnen. Die Normalität ging sogar so weit, dass wir als NPEA zusammen mit Erziehern und Jungmannen den Rahmen für die Aufnahme der 10jährigen Dorfjungen in das Deutsche Jungvolk abgaben. Am 20. April - Führers Geburtstag - fand die angesichts des bevorstehenden Niederganges des Dritten Reiches absurde Zeremonie vor der Freitreppe des Schlosses mit Flaggenparade und (letztmaligem) Absingen des Deutschlandliedes und des HorstWessel-Liedes statt. Am darauf folgenden Wochenende beschloss die Anstaltsleitung, die einzigen wertvollen schulischen Hilfsmittel, nämlich drei Mikroskope, vor einem möglichen Zugriff des Feindes in Sicherheit zu bringen. Drei Schüler des 3. Zuges wurden beauftragt, mit dem Fahrrad diese Geräte in ihre Heimatorte zu transportieren. Rainer Trost, der ebenfalls wie ich aus Wasserburg a. Inn stammte (von 1941-1946 vorübergehendes Domizil meiner Familie), war einer der Drei. Er fuhr am Samstag los, lieferte das Gerät in seiner elterlichen Wohnung ab und kehrte Sonntagabend mit einem Brief meiner Mutter nach Neubeuern zurück. In diesem Brief stand in etwa sinngemäß: Lieber Jochen, es sieht ja nun nicht mehr gut mit dem Krieg aus. Vielleicht wäre es besser, Du kämst jetzt nach Hause, zumal auch keiner weiß, ob die Russen oder die Amerikaner zuerst hier sein werden. Zeig den Brief am besten Dr. Rahm. Was ich am nächsten Morgen am Ende des Frühstücks auch tat. Mit Wochenbeginn war ich mal wieder Jungmann vomDienst, musste also durch sämtliche Gänge und Stockwerke hasten, um die erste Unterrichtsstunde, die wir übrigens bei Dr. Rahm hatten, anzupfeifen. Ich kam daher mit einiger Verspätung in meine Klasse. Im Raum herrschte eine äußerst eigenartige Stimmung, so wie ich sie während meiner gesamten Neubeurer Zeit nicht erlebt hatte. Auch war Dr. Rahm ganz anders als sonst. Etwas Außergewöhnliches musste stattgefunden haben. Bis zum Ende der Unterrichtsstunde löste sich das Geheimnis nicht. In der Pause fragte ich dann meine Klassenkameraden: „Sagt mal, was ist hier eigentlich los?“ Darauf als Antwort: „Gleich zu Unterrichtsbeginn ist der Rahm hier reingekommen und hat sofort erregt losgelegt: Da hat man geglaubt, Jungmannen jahrelang richtig erzogen zu haben. Und mit welchem Erfolg? Defätismus!“ So ähnlich muss die emotionale Ansprache gewesen sein. Der Auslöser hierzu war zweifelsohne der Brief meiner Mutter. Der Absurdität mancher Handlungen und Reaktionen in diesen letzten Kriegstagen habe ich eine weitere Absurdität hinzugefügt. Deutschland stand kurz vor dem totalen Zusammenbruch. Und ich hatte nach dieser Unterrichtsstunde als Klassenbuchführer plötzlich das alles überlagernde Problem - nicht die Sorge ums Vaterland - sondern vielmehr, wie komme ich an das Klassenbuch, das ich übers Wochenende pflichtgemäß bei Dr. Rahm als kommissarischem Anstaltsleiter zur Kontrolle abgegeben hatte. Der Mut fehlte mir, ihm jetzt unter die Augen zu treten. Das Klassenbuch musste halt vorläufig dort bleiben, wo es war. Ich sah mich schon mit der mühseligen Aufgabe konfrontiert, irgendwann später die Unterschriften von den jeweiligen Erziehern einzuholen. Die Absurdität meines Problems war mir in diesem Augenblick nicht bewusst. Auf den Gedanken, entsprechend dem Wunsch meiner Mutter bei Dr. Rahm um die Erlaubnis zur unverzüglichen Rückkehr nach Wasserburg nachzufragen, kam ich schon gar nicht mehr. Am folgenden Tag - Dienstag - hatten wir in der 2. Stunde Erdkundeunterricht bei Dr. Rahm. Der Brief
RkJQdWJsaXNoZXIy OTQ4NjU5