Jahrbuch_2020-21

137 SCHULE -13jährigen ein gewaltiger Preis. Zehnmal auf ein Essvergnügen verzichten zu müssen - eine verdammt schwere Hypothek. Zum Glück sah die Zahlungsvereinbarung vor, dass der Kaufpreis nicht an zehn aufeinander folgenden Tagen entrichtet werden musste. Toni erwies sich als Gentleman. (Ich weiß gar nicht, ob wir damals wussten, was ein „Gentleman“ war). Er war mit Rückzahlungen zu mir genehmen Terminen einverstanden. Natürlich war es ab sofort mein Bestreben, die Abtragung meiner Schuld möglichst erträglich zu gestalten. Für ein von mir nicht mehr benötigtes rotes Plastikdreieck fand ich einen Käufer. Für eine Schnitte, die direkt als Rate an Toni weiterging, wechselte es den Besitz zu Walter Schöll, der es zwei Tage später für drei Schnitten weiterverkaufte. Erst jetzt bei unserem Klassentreffen in Bad Reichenhall im April 2000 erfuhr ich von Frieder Löffler, dass er der Käufer war. Mein Fehler war es damals wohl, das Dreieck nicht lauthals genug angeboten zu haben. Der Zwischenhändler Walter wäre vielleicht auszuschalten und das Geschäft zu unser beider Nutzen für zwei Schnitten abzuschließen gewesen. Zu spät - 55 Jahre zu spät. Eine gewisse Erleichterung erfuhr mein Schicksal dadurch, dass eine Scheibe Preßsack, die uns zum Abendessen serviert wurde, von Toni (als echtem Bajuwaren) als Äquivalent für eine Schnitte akzeptiert wurde. Damals wie auch heute konnte und kann ich als Preuße für dieses bayerische Schmankerl keinerlei Sympathie empfinden. Ich hatte mittlerweile fünf Raten geleistet, als sich das unabwendbare Kriegsende ankündigte. Die amerikanischen Truppen befanden sich weiter auf dem Vormarsch in den Süden Deutschlands, und die Schüler, die ihre Heimatorte noch rechtzeitig vor dem Gegner erreichen konnten, wurden schubweise nach Hause geschickt. Kurz vor dem 20. April stand Toni vor mir, sein Schub war dran. „Du, ich muss jetzt nach Hause fahren. Bitte, gib mir den Gürtel zurück. Schau‘, Du hast erst fünf Schnitten bezahlt“. Mensch, Toni, das kannst Du nicht machen, ich brauch‘ den Gürtel doch“. Toni überlegte kurz: „Also, in Ordnung. Aber wenn wir wieder nach Neubeuern kommen (nach dem Endsieg!), dann bekomm‘ ich die anderen fünf Schnitten noch von Dir“. „Aber sicher, keine Frage“. Kein Endsieg, keine Rückkehr nach Neubeuern, und der Gürtel hatte irgendwann seine Schuldigkeit getan und sein Ende im Mülleimer gefunden. Aber die Schuld der nicht eingelösten fünf Raten blieb. Sie blieb über Jahrzehnte. Jeglicher Kontakt zu den Mitschülern des 3. Zuges war verloren gegangen, aber nicht die Gedanken an Neubeuern und die letzten Tage dort, und so turnte in meinem Hinterkopf, eher leicht amüsiert als ernsthaft, auch immer wieder der Gedanke herum: Du schuldest dem Toni Bäuerle noch fünf Schnitten. Dann kam die Gelegenheit, auf die ich insgeheim immer gehofft hatte. Werner Zwick (ihm sei an dieser Stelle nochmals gedankt) hatte mich ausfindig gemacht und mir von sporadischen Zusammenkünften erzählt. Beim nächsten Treffen (1996), ausgerichtet von Helmbrecht und Hilde Saumweber in ihrem Münchener Heim, war ich dabei: Ebenso Toni. Meine Schuld - fünf Schnitten Brot - konnte ich endlich „in natura“ bei einem überraschten Toni tilgen, überrascht deshalb, weil er selbst keinerlei Erinnerung mehr an die Geschehnisse vor über fünfzig Jahren hatte. Für mich aber hatte eine Geschichte, deren Ursprung im Januar 1945 lag, im Oktober 1996 ein zufriedenstellendes Ende gefunden. Joachim Doedter 41

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