Jahrbuch_2020-21

138 SCHULE DerTriumph des kleinen Jungmannes Spätherbst 1944 - Wir waren mittlerweile 3. Zug geworden und unser Fundus an Erkenntnissen, die das Leben als Individuum oder Kollektiv in einer uniformierten hierarchisch strukturierten Gemeinschaft erleichtern, dementsprechend wohl bestückt. Eine dieser Erkenntnisse, natürlich seit langem in entsprechende Verhaltensweisen umgesetzt, lautete ganz banal: „Wenn‘s geht, nicht auffallen. Damit war selbstverständlich gemeint: Nicht „unangenehm“ auffallen.“ Denn disziplinarische Sanktionen unterschiedlicher Art waren meist die Folge. Das Unangenehme in diesem Zusammenhang war, dass „unangenehm“ eigentlich immer von oben definiert wurde und wir die Feststellung des „unangenehm“ als Faktum einfach hinzunehmen hatten. Aber zurück zum Spätherbst 1944. Der 3. Zug war aufgefallen, unangenehm aufgefallen. Fragt mich nicht, wodurch oder wieso - es war halt so. Basta. Getroffen hatte diese Feststellung der in jener Woche diensttuende ZvD -Zugführer vom Dienst (= Aufsicht führende Erzieher) - Stadelmann, oder war er schon Hauptzugführer, also Hauptzugführer Stadelmann. Irgendeine Sanktion war damit angesagt. ‚Nach dem Abendessen meldet sich der 3. Zug bei mir vor dem Schlossportal, im Mantel.“ Als Altphilologe war Stadelmann unbestritten eine Kapazität, seine Fähigkeiten im Dienstbetrieb liessen aber gewisse Zweifel an seinen pädagogischen Maßnahmen zu. „Im Mantel?“ Im Mantel, so‘n Mist. Bedeutete dies doch, dass wir irgendwo draußen über den Boden gescheucht würden mit dem einzigen Ziel, dreckige Mäntel zu produzieren. Dass dabei auch unsere körperliche Fitness, aller ahrscheinlichkeit nach durch Robben, getestet würde, war nicht weiter schlimm, denn diesen Test würden wir bestehen. Nein, viel schwerwiegender in unseren Augen war die Aussicht, am Ende in verschmutzten Mänteln nach Hause marschieren zu müssen. Und die zeitaufwendige Reinigung danach war das überaus Ärgerliche, denn sie würde zu Lasten unserer nicht gerade reichlich bemessenen Freizeit gehen. Also verdammt, verdammt ärgerlich das Ganze. Wie befohlen, war der 3. Zug vor dem Schloss angetreten. Hauptzugführer Stadelmann übernahm das Kommando. „Ganze Abteilung - stillgestanden“ „Rechts - um“ „Im Gleichschritt - marsch“ Der Marsch führte zum Schlosspark - wie erwartet. Dann: „Ganze Abteilung - halt“ ‚Hinlegen“ ‚Weiter robben“ Das Programm lief. Aber Robben, wir hatten es uns anders überlegt, ohne Absprache. Wie die Maikäfer, nur auf Finger- und Fußpitzen, bewegten wir uns vorwärts, immer darauf bedacht, dass unsere Mäntel den Boden möglichst nicht berührten. Wie gesagt, es war Spätherbst, es war Krieg, daher keine Lichtquellen weit und breit, kein Mond am Himmel, mit anderen Worten, es war stockdunkel, unsere eigenmächtige befehlswidrige Änderung der Fortbewegungsart blieb unbemerkt. Für Stadelmann bewegte sich dagegen Befehls gemäß auf dem Boden eine amorphe Masse, wie disziplinarisch gewünscht. Zwischendurch immer wieder: „Auf - hinlegen“ „Auf - hinlegen“ „Weiter robben“ Finger- und Fußspitzen hielten durch, unsere Mäntel hatten keine Bodenberührung erfahren. Irgendwann mussten unsere Mäntel wohl dreckig genug sein, hatten wir unsere Schuld abgearbeitet. Hauptzugführer Stadelmann ließ uns zum Schloss zurückmarschieren. Sorge keimte auf: Hoffentlich lässt uns Stadelmann im Dunklen vorm Schloss wegtreten. Der unbefleckte Zustand unserer Mäntel sollte unser Geheimnis bleiben. Das Schicksal war auf unserer Seite. „Ganze Abteilung - halt“ Weggetreten“ (für Stadelmann weggetreten zum Mantelsäubern) Zwei Minuten später hingen saubere Mäntel in den Spinden. Der Triumph war unser. Am nächsten Morgen war der 2. Zug schon vor dem Frühstück kurz davor, „unangenehm“ aufzufallen. ZvD war weiterhin Hauptzugführer Stadelmann. „Also 2. Zug, überlegt es Euch gut, sonst erkundigt Euch mal beim 3. Zug, wie es dem gestern Abend ergangen ist.“ Unser Grinsen war kaum zu verbergen. Es war uns gelungen, endlich einmal der Obrigkeit eine lange Nase zu drehen. Unser Triumph war vollkommen. Joachim Doedter 42

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