Jahrbuch_2020-21

149 SCHULE schule versäumt hatte. Mein Lehrer war wieder Hans Fischer. Ich hatte ihn vom ersten Schuljahr an. Er war überrascht mich zu sehen. „Was tust du hier? Warum bist du nicht in Neubeuern?“ Er rief sofort dort an. Man hatte mich vergessen. Im Hinblick auf die Sonderstellung der körperlichen Ertüchtigung erinnere ich mich, dass ausser mir noch ein zweiter Schüler der Nikolaschule für Neubeuern ausgewählt war. Er war in einer Parallelklasse. Meine Mutter war mit seiner Mutter bekannt. Außer der Auswahl durch Zugführer Stadelmann und dem darauf folgenden Ausleseverfahren mussten drei andere Bedingungen erfüllt werden: Man musste „arischer Abstammung“ sein (meine Eltern schrieben an diverse Pfarrämter, um diesbezügliche Taufurkunden and Heiratseinträge im Pfarrregister), der Vater musste Mitglied der NSDAP sein (bei mir übersehen), und man musste im örtlich zuständigen staatlichen Gesundheitsamt für napolatauglich befunden werden. Der andere Schüler wurde vom untersuchenden Arzt eines „runden Rücken“ wegens abgelehnt. Seine gute Schulleistung und die NSDAP-Treue des Vaters halfen ihm nicht. Die anderen Neulinge waren schon eine Woche in Neubeuern zur Einschulung. Ich hatte die Einschulung versäumt und sollte sofort kommen. Ich lief heim, wir packten schnell meinen Koffer und meine Mutter und ich waren bald im Zug nach Raubling. Von dort schleppten wir den Koffer nach Neubeuern und den Schlossberg hinauf. Meine Mutter verließ mich gleich, um in Raubling noch eine Verbindung nach Landshut zu erreichen. Als sie sich verabschiedet hatte fühlte ich mich wie im freien Fall durch die Leere. Ich wurde der Stube Telemann zugeteilt, erhielt Spind und Arbeitstisch, wurde eingekleidet und stand bald in Uniform vor meinem Spind, um ihn einzuräumen, wusste natürlich nicht, dass alles in vorgeschriebener Ordnung und auf Kante auszurichten war, war umzingelt von Gleichaltrigen die mich verspotteten, weil ich spät gekommen war und von Ordnung keine Ahnung hatte. Im Nu kam es zur Rauferei, die Tür ging auf, es wurde Achtung gerufen, alles stand stramm, Hände an die Hosennaht, außer Eberl und ich. Wir balgten uns am Boden. „Das ist also der Neue. Keine Stunde da und schon rauft er“, sagte der diensthabende erwachsene Zugführer, ohne mich damit zu tadeln. Ich war angekommen. Ich fühlte mich sehr verlassen und allein, war aber beeindruckt von der Vornehmheit des Schlosses, den Kronleuchtern, Marmorsimsen, hohen und langen Gängen, dem Turm, dem Park mit alten Buchen und echten Kastanien und der Wolfsschlucht; eine ganz andere Welt von der des kleinen Siedlungshauses im Arbeiterviertel mit Gemüsebeeten, dem Hasenstall und den Hühnern, in dem ich aufgewachsen war. In meiner neuen Uniform fühlte ich mich nicht wohl. So viel daran konnte schief gehen, lose Knöpfe, Flecken am Tuch, Staub an den Schuhen, Kappi nicht im richtigen Winkel. Von einer Sondergenehmigung für das Tragen von Lederhosen hab ich nichts mitbekommen. Eines hatte die Uniform für sich; sie verband und ich machte Bekanntschaften: Eberl, mein Raufgenosse, Walter Deisenberger aus Rosenheim, Helmut Bayer aus Reit im Winkl, mit einer Großmutter in Landshut, Kees irgendwo aus dem Allgäu, Gegenfurtner aus der Nähe Straubings, dann war in meiner Stube ein Jungmann aus Grosshesselohe, der von Selbstmorden von der Grosshesselohener Brücke erzählte und eine Mutter hatte, die ihre Kinder sexuell aufklärte, bis zur Beschreibung des Koitus, wo doch bei mir in Landshut immer noch der Storch Kinder brachte. Die Wolfsschlucht war wichtig für mich, eine Art Refugium. Ich ging oft allein hin, wenn ich vom Napola Betrieb weg sein wollte. Zum Alleinsein hatte ich auch ein Versteck in einem Lieblingsbaum im Park, einer alten Buche, einen bequemen und verborgenen Astsitz hoch oben. Ich hatte das Glück in Werner Telemanns Stube zu landen. Werner war damals vielleicht fünfzehn. Er war mir von Anfang an symphatisch, war freundlich, sachlich und ausgewogen, verlangte zwar, dass in seiner Stube Ordnung war, war aber hilfsbereit, auch bei Hausaufgaben, schikanierte seine Leute nicht und gab mir das Gefühl bei ihm zu Hause zu sein. Ich vertraute ihm. Nur einmal enttäuschte er mich. Wir hatten in Neubeuern kein Radio. Als ich zu Weihnachten 1943 daheim war, wo mein Bruder die Frontbewegungen auf einer Landkarte mit Stecknadeln absteckte und wo zum ersten Mal die Front, statt sich auszubreiten, in Richtung Deutschland schrumpfte, gab mir mein Vater einen Volksempfänger samt Antennendraht, den ich nach Neubeuern mitnahm. Mein Studiertisch war am Fenster, auf der Turmseite, gegenüber stand ein hoher Baum. Mit Hilfe meiner Stubenkameraden spannte ich eine Antenne vom Baum zum Fenster, hatte aber nicht genügend Draht die Antenne zu erden. Bei Gewitter war es also wichtig, den Antennenstecker aus der Buchse am Radio zu ziehen. Nach einem Gewitter wollte ich den Stecker wieder hineinstecken, bekam aber bei der Berührung einen starken elektrischen Schlag; wohl vom Gewitter dachte ich, bis mich lautes Gejohle und Gelächter meiner Stubengenossen eines andern belehrte. Es wurde mir klar, dass ich einem Streich aufgesessen war. Ich entdeckte, dass meine Antenne durch einen versteckten Draht zu einer Steckdose aufgeladen war, fühlte mich von meinen Kameraden verraten, die doch so gernWunschkonzert hörten und bei „Lilli Marlen“ so still wurden und war traurig darüber, dass auch Werner Telemann mitgelacht und beim Streich auf meine Kosten mitgemacht hatte. Als unsere Feinde schon auf deutschem Boden standen und die Kriegslage verzweifelt war, wurde auch unsere Ausbildung militärischer. Während ich schließlich nach Hause geschickt wurde, kamen unsere Stubenältesten zumVolkssturm, um der aliierten Invasion Einhalt zu gebieten. Werner erzählte davon in einem Brief, den er mir nach dem Krieg schrieb. Ausgerüstet mit Infanteriegewehren lag er mit einigen Napola Kameraden in einer Waldmulde und erwartete seine erste Feindberührung mit einer sich annähernden amerikanischen Einheit. Er musste pinkeln, nahm sein Gewehr und schlich abseits in die Büsche. Als er vorsichtig zurückpirschte und die Mulde sah, stand über ihnen ein amerikanischer Soldat mit angeschlagenem Gewehr und seine Napola Kameraden hatten die Ge- 53

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