Jahrbuch_2020-21

150 SCHULE wehre weggeworfen und hielten die Arme hoch. Der feindliche Soldat hatte Werner noch nicht gesehen. Werner hatte sein geladenes Gewehr in der Hand. Da stand nun seine Napola Ausbildung auf der Kippe! Er wusste, dass er schießen sollte, um den Feind zu töten und die Gefangennahme der Kameraden zu verhindern. Er ließ sein Gewehr fallen, streckte die Arme hoch und stieg in die Mulde. Werner stammte aus Udersleben in Thüringen. Nach seinem ersten, langen Brief kam keiner mehr. Als Jahrzehnte später die Mauer zwischen Ost und West fiel und meine Frau, eine Amerikanerin und ich in Bayern Urlaub machten, fuhren wir ostwärts, um Werner in Udersleben zu finden. Wir fanden schließlich Udersleben, wussten nicht ,wo in dem kleinen Ort die Telemanns wohnten, hielten an der Dorfwirtschaft, um uns nach ihnen zu erkundigen. Die Gaststube war verqualmt, um den Stammtisch saßen kartenspielende, meist ältere Männer. Ich trat hinzu, erkundigte mich nach Werner Telemann, bekam keine Antwort, wurde nachhaltig ignoriert. Ich erklärte unser Anliegen. Weiteres Schweigen. Als wir unverrichteter Dinge abzogen, verstört durch diese Unfreundlichkeit, holte uns auf dem Weg zum Auto ein Mann aus dem Gasthof ein, zeigte auf ein nahes Haus und sagte, dass dort Werners Bruder wohne. Wir klopften an, wurden freundlich empfangen und bewirtet, saßen lange mit Werners Bruder und Schwägerin im Garten, sprachen über das Leben im Osten. Das Schweigen der Wirtsgäste wurde damit erklärt, dass sich Werner mit seiner Familie unerlaubt in den Westen abgesetzt hatte, was zu Schwierigkeiten für den Ort geführt hatte, so dass man seither jeder diesbezüglichen Frage auswich. Werner war Arzt geworden und praktizierte nun imWesten. Wo? Ich bekam keine Anschrift, wurde aber um meine gebeten mit der Versicherung, dass sie an Werner weitergeleitet wurde. Es kam nichts. Schade, dass ich so spät zu dieser Gruppe stieß. Ich hätte ihn so gern noch getroffen. Die Weihnachtsferien 1943 waren für mich von besonderer Bedeutung. Ich wurde am letzten Schultag in die Napola Leitung bestellt, wo mir Zugführer Rahm mitteilte, dass man an höherer Stelle bemerkt hatte, dass mein Vater nicht der NSDAP angehörte und ich nur nach seinem Eintritt in die Partei in die Napola zurückkehren dürfe. Mein Vater diente als Freiwilliger im ersten Weltkrieg, war verwundet worden, hatte als Einberufener den Frankreichfeldzug 1940 mitgemacht, war nach der Kapitulation Frankreichs seines Alters wegen entlassen worden. Er wusste Ende 1943, dass ein deutscher Sieg nicht mehr wahrscheinlich war, war seiner Gesinnung nach Sozialist und hatte keinen Grund, der NSDAP beizutreten. Keinen, außer mir. Ich bedrängte ihn und meine Mutter. Es war Weihnachtszeit. Die Zeit Gutes zu tun. Der Beitrag war erschwinglich. Vor meiner Abreise tat er mir schließlich den Gefallen, holte sich ein Parteibuch und eine Beitrittsbestätigung für Neubeuern. Ich hab ihm damit eine Nachkriegsentnazifizierung eingebrockt aber auch vielleicht das Leben gerettet. Er war in einer unabkömmlichen Stellung bei der Bahn. Sein Chef war auch Parteimitglied, sah in ihm einen verlässlichen Mitarbeiter, schützte ihn vor wiederholten Versuchen des Wehrkreiskommandos ihn einzuziehen und an die Ostfront zu schicken. Er überlebte den Krieg in Landshut. Es ist mir ein Rätsel, warum ich mich überhaupt nicht an den Unterricht erinnere. In meiner Erinnerung existieren die Lehrkräfte nur als Zugführer, hauptsächlich als Tischrunde im Speisesaal. Luckinger hab ich natürlich nicht vergessen. Er war ja mein Zugführer, zudem sprach er Bayrisch. Er hatte eine sympathische Frau, die ich nur einmal kurz sah, als mir befohlen war, eine Nachricht zu überbringen. Als sie die Wohnungstür öffnete, schlug mir ein Geruch von Kochen und Kleinkind entgegen, ganz seltsam in der männlichen Gehorsamswelt, stark an die Heimat erinnernd. Sie benahm sich mir gegenüber wie eine Mutter zu einem Kind statt zu einem befehlsausführenden, uniformierten Jungmann. Vom Zugführer Luckinger hörte ich noch einmal nach dem Krieg. Kurz nach Kriegsende kam eine briefliche Bitte von ihm, dem entnazifizierenden Gremium an Eidestatt zu bestätigen, dass in seinem Mathe Unterricht nationalsozialistische Ideologie keine Rolle spielte. Mein Vater erklärte mir, was eine eidesstattliche Erklärung ist. Ich schickte sie ab. Zugführer Kamradek ist für mich ein ziemlich großer, ernsthafter Mann in feldgrauer Uniform mit SS Winkel am Arm, aufrecht aber irgendwie leicht körperbehindert. Zugführer Stadelmann steckt in meiner Erinnerung immer in SA Uniform mit Ehrendolch an der Seite, Oberkörper etwas hölzern leicht nach vorne geneigt, vielleicht der Uniform wegen, die nicht recht zu ihm passte, die er aber umso hartnäckiger zu tragen schien. Zugführer Rahm, zu meiner Zeit Leiter der Napola, jugendbewegt und gut aussehend, ist aber trotz seiner beliebten Heimabende in der Aula sehr verblichen in meinem Erinnerungsbild, im Gegensatz zu seiner Frau, einer jungen blond-arischen Schönheit, die mir einmal erlaubte ihr den Wäschekorb in den Trockenspeicher tragen zu helfen und deren bezauberndes Bild, Kinder an der Hand, mich Zeit meines langen Lebens begleitete. Von der Aula steckt mir übrigens noch der offene Kamin im Kopf mit schönen Schnitzereien oder Reliefwerk am Rauchfang. Dort erschien auch eines Abends ein Herr, der Napolas bereist hatte und darüber einen Vortrag hielt, mit Farbdias. Das Wunder dieser ersten Farbbilder auf der Leinwand gehört zu meinen Napola Erinnerungen, ebenso wie die konzertante Aufführung von Humperdincks Hänsel und Gretel, mit der ich über Nacht Opern-Fan wurde und durch die ich auch meiner keimenden erotischen Gefühle bewusst wurSA-Dolch „Alles für Deutschland“ Brunnenfund Schloss Neubeuern 2010 ARCHIV Herr Rahm mit seiner Frau DOEDTER 54

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