Jahrbuch_2020-21

151 SCHULE de, als die hübschen jungen Sängerinnen nach der Vorstellung durch unseren Schlafsaal und unsere Bettreihen gehen mussten, um in ihr eigenes Quartier zu gelangen. Herr Seehase, bei dem der Zivilist immer durch die Uniform sichtbar war, nicht so schneidig wie die andern, war für uns vielleicht deshalb der Adressat einer einzigartigen Demonstration. Im kalten Winter 1944 wurden wir mit neuen, langen Unterhosen ausgestattet. Sie wurden abends ausgeteilt. Als wir sie anzogen, um weniger in den ungeheizten Schlafsälen zu frieren, wurde offenbar, dass es sich um Militärgut für Soldaten handelte. Für die meisten von uns steckte über dem Gummibund nur der Kopf heraus. Wir standen herum wie weiße Störche mit kurzen Hälsen. In unserm Frust und in der Komik der Situation formte sich eine Prozession. Wir läuteten bei Dr. Seehase, bewusst, dass es Strafdienst zur Folge haben konnte. Er machte auf, sah sich mit einer Schar weiß-behoster Köpfe konfrontiert, lachte herzhaft und schickte uns ins Bett. Ich erinnere mich an Herrn Groen, Holländer, groß, schlank, sportlich, immer imTrainingsanzug in der Turnhalle, mit spitzen Turnschuhen, mit denen er uns mit Vorliebe in den Hintern trat und uns als einer der beiden Anstaltssadisten die Turnstunden verleidete. Der andere war Drewel, der Strafdienstfolterer. Beiden verdanke ich eine erste Erfahrung mit der grausamen, dunklen Seite der Ideologie, zu der wir erzogen wurden. Schließlich taucht auch noch Frau Fischer in meiner Erinnerung auf. Zum ersten als Keramikerin. Ich habe bis heute ein kleines Entlein, mein erstes keramisches Produkt. Sie war zudem unsere Anstandsdame. Einmal im Monat mussten sich alle, die in dem Monat Geburtstag hatten bei ihr zu Getränk und Kuchen melden. In diesen Hungerjahren war das zwar eine hochwillkommene Bereicherung der Tagesverpflegung, aber es kostete. Erstens musste man sauber gewaschen, gescheitelt, manikürt und in der besten Uniform mit gewichsten Schuhen erscheinen, man musste sich vornehm benehmen, nicht zu große Bissen nehmen, gut durchkauen, in kleinen Schlucken trinken, die richtige Verwendung von Kuchengabel und Teelöffel beachten, die Serviette anstandsgemäß platzieren und dabei auch noch höflich konversieren, nicht leicht für ein Arbeiterkind. Da konnte mehr schief gehen, als es das Stück Kuchen wert war! Frau Fischer, vollbusig und gepflegt, strahlte für mich keineWärme aus. Sie wohnte im Seitenflügel. Am besten am ganzen Geburtstag gefielen mir die gelben Schwertlilien im Brunnen vor ihrer Wohnung. In den ersten Monaten hatte ich Heimweh. Ich kam mir verlassen vor, immer in Gefahr, was falsch zu machen. Ich wurde zum Bettnässer, was mir völlig neu war. Ich hatte gesehen, dass andere damit zu schaffen hatten, bei manchen geschah es jede Nacht. Damit begann der Tag in Scham. Die Betten mussten gebaut werden, die Decken auf Kante, das Laken gestrafft. Da war der gelbe Fleck nicht zu übersehen, also Anschiss bei der Inspektion, Verhöhnung vor den Kameraden, automatische Verdammung zum Strafdienst. Bei mir geschah es nur ab und zu, machte aber alle Nächte problematisch. Ich schlief im großen Schlafsaal, oben an der breiten Haupttreppe. Ich war zwar stolz in einem Schloss zu wohnen, aber in Schlössern geistert es. Nachts aufs Klo zu gehen, war für mich lange eine Mutprobe. Kaum hatte man im Dunklen die Tür des Schlafsaals geöffnet, gähnte einem die dunkle Leere des Treppenhauses entgegen. Irgendein Burgdämon wartete da in der Finsternis auf den nächsten Buben, den die volle Blase aus dem sicheren Schlafsaal trieb. Links und rechts verliefen sich lange, hohe Gänge ins Schwarze, Unheimliche; wenn man Glück hatte und Mut aufbrachte, konnte man schnell links den Gang hinunterhuschen und durch die schwere Tür ins spärlich beleuchtete Klo entkommen. Nun aber waren ja durch das Geräusch der Türen alle Geister des Schlosses alarmiert und bereit, den Biesler auf der Flucht zurück zur Schlafsaaltür zu erhaschen. Ich schaute weder links noch rechts und rettete mich schlagenden Herzens durch dieTür. Strafdienst war schlimm genug, zudem wurde die Bettwäsche nur monatlich gewechselt und so war dieser Fleck des Schams wochenlang zur Schau gestellt. Ich beneidete meine Kameraden mit weißen Laken. Als die rare Gelegenheit kam, zum ersten Mal Heimatbesuch zu bekommen und sich meine Mutter mit ihrer Nichte anmeldete, zeigte ich ihnen stolz das Schloss. Als sie meine Schlafstelle sehen wollten, führte ich sie an anderen Besuchern vorbei an ein sauberes Bett, in der verzweifelten Hoffnung, dass mich andere nicht verraten würden und der Besitzer des Betts nicht grad mit seinen Eltern durch die Tür kam. Es klappte. Aber ich hatte meine Mutter betrogen. Das beeinträchtigte die Freude an ihrem Besuch. Mein Bettnässen hörte nach den ersten Monaten auf, aber Strafdienst bei Drewel kam immer wieder vor, eines fehlenden Knopfes wegen, oder nicht sauber geputzter Schuhe wegen, oder weil man der letzte war, der zum Appell gelaufen kam. Dann kamen Kniebeugen, Häschenhüpfen mit vorgetreckten Armen, zunehmend beschwert mit Büchern, bis zum Zusammenbruch, oder Liegestützen, Liegestützen und weitere Liegestützen und schließlich Liegestützen mit Drewels drückendem Schuh auf dem Rücken. Drewel brüllte, lachte, genoss wie er sein Opfer „zur Sau“ machte. Natürlich fürchtete ich mich vor ihm und seinen Folterungen. Ich fragte mich schon als Elfjähriger ,warum die anderen Stubenältesten das duldeten, Leute wie Telemann oder der Lange aus Schulpforta, der ganz offensichtlich seine „Zwergenstube“ mochte, ganz zu schweigen von den Erwachsenen, von Luckinger, Seehase, Stadelmann, Kamradek, Rahm? Und wie machte das uns stärker? Es regten sich Zweifel an Neubeuern in mir. Drewel hatte Lieblingsopfer. Ich war Gott sei Dank nicht dabei. Aber wenn ich noch heute an Sadisten denke, denke ich an Drewel. Er ist mein Archetyp. Er war auch Stubenältester. Vielleicht haben ihn seine Stubenbewohner anders erlebt. Im Advent hing in seiner Stube ein Adventkranz. Vor Weihnachten fing der ausgetrocknete Adventkranz beim Anzünden der Kerzen Feuer. 55

RkJQdWJsaXNoZXIy OTQ4NjU5