152 SCHULE Drewel riss den lodernden Kranz von der Decke mit bloßen Händen und schleuderte ihn hinaus durchs geöffnete Fenster. Auch das hab ich nicht vergessen. Als niederbayerisches Schulkind war ich natürlich Katholik, mit erster Beichte und erster Kommunion, mit Sonntagsmesse, die zu vermissen eine Todsünde einbrachte. Ich ging also nach meiner Einkleidung in meiner neuen Uniform am ersten Neubeurer Sonntag zur Messe in die Dorfkirche. Ich war der einzige Jungmann dort, zog staunende Blicke auf mich, aber rechnete es meiner Fremdheit in der kleinen Gemeinde zu. Als ich zurückkam und erzählte, wo ich gewesen war, sagte Telemann, dass es für einen Jungmann nicht schicklich sei in die Sonntagsmesse zu gehen. Ab sofort war also verboten, was noch vor Tagen mit Hölle Androhung geboten war. Wer sollte sich da noch auskennen? Es störte mich später die Schlosskapelle als Depot für Schiausrüstung benutzt zu sehen. Das einzige Schilager übrigens, an das ich mich erinnere, war in der Nähe von Oberaudorf. War unser Zug anderswo als die anderen? Luckinger war dabei sowie ein schneidig aussehender Schilehrer, bei dem ich zum ersten Mal richtige Schistiefel sah und der den Hang hinabwedelte, statt Schnee zu pflügen. Ich war gern im Schilager, bewunderte ihn, aber wunderte mich, warum der nicht an der Front war. Weitere Wintererinnerungen: Wir haben im Park bei nassem Schnee zusammen Riesenschneewalzen gerollt, sie aber nicht zum Schneemann getürmt, sondern sie mit großem Hallo in die Wolfsschlucht hinabgestoßen. Sonst ist mir die Kälte im Schlafsaal in Erinnerung. Brennstoff wurde von Jahr zu Jahr rarer. Der Schlafsaal blieb ungeheizt. Im kaltenWinter 44/45 erlaubte Zugführer Luckinger schließlich Walter Deisenberger, der ja im nahen Rosenheim wohnte, ein Federbett in die Napola zu bringen. Wir waren nur mit Decken zugedeckt. Damit waren nun Federbetten erlaubt. Ich brachte meines von den Weihnachtsferien zurück und war in seiner Wärme den Deisenbergers dankbar. Im Winter 1944/45 und den ganzen Frühling hindurch waren viele unserer Nächte durch Fliegeralarm unterbrochen. Das hieß raus aus den Betten und auf dem kalten, harten Kellerboden kauern bis Stunden später endlich Entwarnung kam. Wie andere erinnere ich mich auch an eine angeschossene amerikanische Flying Fortress, die auf dem Rückflug vom Bombardieren nicht weit von Neubeuern, vielleicht bei Nussdorf, bruchlandete. Wir marschierten hin. Das Flugzeug, riesengroß, war stark beschädigt, zum großen Teil aber noch in einem Stück, kam am Wiesenrand unter Bäumen zum Stehen. Auf der Wiese lagen tote Besatzungsmitglieder, die anscheinend im letzten Moment abgesprungen und deren Leichen durch dieWucht des Aufpralls in den Boden gepresst waren. In der Flugzeugkanzel saßen noch Pilot und Kopilot, angegurtet, beide tot, der Pilot skalpiert, die Kopfhaut hing ihm übers Gesicht. Hinter ihnen lag ein dritter Amerikaner mit Bonbons in seiner toten Hand. Wir sammelten Munition der Bordkanonen, die verstreut herumlag als Souvenire, auch Splitter einer neuen Art von Glas. Dr. Seehase hatte uns hergeführt, nahm Papiere aus dem Wrack, durchsuchte sogar die Uniformtaschen der Toten, wo er Briefe und Fotos fand. Zurück in der Napola rief Dr. Seehase die Luftwaffe an und bekam Bescheid, dass die Munition für Kinderhände zu gefährlich war. Zu unserem Bedauern mussten wir sie abliefern. Die Glasscherben setzten uns in Erstaunen, weil dieses Glas entzündbar war! Plexiglas! Briefe und Fotos schickte Herr Seehase zu meinem weiteren kindlichen Erstaunen ans Rote Kreuz in der Schweiz, zur Benachrichtigung der Angehörigen. Warum ihnen diesen Gefallen tun? Es handelte sich doch um Todfeinde, die noch eben solche Deutsche wie mich und meine Familie grausam getötet und ihre Häuser in die Luft gesprengt hatten! Die Toten wurden auf der Wiese begraben; denn man wusste ja nicht, ob sie katholisch waren. Als ich kurz nach der Kapitulation wieder nach Neubeuern fuhr, hörte ich, dass die Bauern sie für die Amerikaner exhumieren mussten. Nach meinem ersten Jahr hatte ich mich gut eingewöhnt. Heimweh und Bettnässen hatten längst aufgehört. Ich war ein Durchschnittsschüler, habe weder Zeugnisse aufbewahrt, noch kann ich mich an Noten erinnern, war nicht wirklich gut im Sport, im FrühsportLanglauf eher in der hinteren Hälfte, beim Boxen meist unterlegen, beim Luftgewehrschießen nicht besonders treffsicher und schwimmen lernte ich nie, obwohl man mich, oder vielleicht weil man mich wie andere auch wiederholt ins tiefe Wasser warf, wo ich am Ertrinken war, bis mich einer vom Schulpforta Zug rausholte. Auch beim Modellfliegerbauen wurde mein „Jungvolk“ nie startbereit, obwohl ich mit Enthusiasmus mit anderen bei der Sache war und mit Begeisterung zuschaute wie elegant die der besseren Bastler flogen. Bei Geländespielen, die ich mochte, weil es da hinausging in die Umgebung und in die Wälder, war ich immer in der großen Einheit von Fußsoldaten, über die der Gegner schließlich herfiel oder die über den Gegner herfiel, riss dabei so viele Lebensfäden im Gewühle mit Gegnern ab als ich konnte, bis auch ich „tot“ war und zum Haufen der Gefallenen musste. Nie wurde ich einem Spähtrupp oder Sonderkommando zugeteilt, oder als Beobachter auf einen Baum geschickt. Ich hatte gelernt, nicht aufzufallen, weder als erster noch als letzter. Meine Schuhe waren gewichst, meine Knöpfe angenäht, wenn auch nicht besonders haltbar, mein Spind war einigermaßen auf Kante, die Socken leidlich gestopft und das Koppel poliert. Drewel bekam mich seltener zum Strafdienst. Einmal wurde ich sogar ausgewählt, beim Hissen der Fahne am Morgen vor den angetretenen Zügen den Tagesspruch zu deklamieren. Ich bin heute noch stolz darauf und weiß ihn siebzig Jahre später: „Das Ziel im Auge, den Kampf nicht gescheut. - Manfred Freiherr 56
RkJQdWJsaXNoZXIy OTQ4NjU5