Jahrbuch_2020-21

153 SCHULE von Richthofen.“ Autoritäten gegenüber hatte mich die Napola zum Mitläufer erzogen. Ich hatte gelernt, unauffälliger Gefolgsmann zu sein. Dass wir in einem Schloss hausten, war für mich ein persönliches Abenteuer, privat zu genießen, eine Parallelwelt zum kleinen Haus im Gemüsegarten daheim. Außer den Kronleuchtern, die mir so imponierten, war da zum Beispiel eine Eingangstür mit einem elegant verzierten Schloss, wo man auf ein schmiedeeisernes Gesicht drücken musste, um dieTür zu entriegeln; es gab einen offenen Kamin mit einem wunderbar geschmückten Rauchfang und sonntags konnte man sich beim diensthabenden Zugführer den Schlüssel holen und den Turm besteigen, sich oben auf der Aussichtsplattform von der Sonne bescheinen lassen, ins Weite schauen, die Turmfalken beobachten, oder Papierflieger aus großer Höhe starten. Ich war manchmal allein oben. Der früher vom Heimweh geplagte Bettnässer fühlte sich schließlich so selbstverständlich als Jungmann, dass er, ich glaube in den Pfingstferien 1944, nicht heim nach Landshut fuhr, sondern mit einer kleinen Napola Gruppe an den Simssee zum Zelten. Meiner Erinnerung nach waren wir irgendwo am schilfbewachsenen nordöstlichen Ufer an einer kleinen Bucht, in die ein Rinnsal mündete. Wir hatten einen kleinen Kahn zur Verfügung, der gleich zum Piratenschiff wurde. Ich lernte rudern. Ich weiß nicht mehr, wer dabei war, Kees vielleicht, oder welcher Stubenälteste uns anführte. Wir waren ohne Erwachsenenaufsicht. Napola Manieren, wie antreten, strammstehen, Hand an die Hosennaht, waren schnell vergessen. In meinem Gedächtnis leben diese Simsseetage bis heute als romantisch verspielte Kindheitserinnerung. Trotzdem weiß ich nicht, wer dabei war. Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich in meiner Unsichtbarkeit in Neubeuern keinen „besten“ Freund hatte. Gegenfurtner von der „Zwergenstube“ blieb mir in Erinnerung, weil wir vor und nach den Ferien oft im gleichen Zug saßen. Er war in der Nähe Straubings zu Hause und fuhr über Landshut. Nach dem Krieg war ich in Straubing in der Schule. Ich schrieb ihm und stieg bei meiner Heimfahrt nach Landshut einmal auf seiner Bahnstation aus. Wir trafen uns für ein paar Stunden. Er hatte eine Lehre angefangen, arbeitete auch zuhause auf dem Hof mit. Helmut Bayer vergaß ich nicht, weil er in Landshut eine Großmutter Namens Keim (?) hatte, die in der vornehmen Villa der Meyermühle meiner Volksschule gegenüber wohnte. Er war zu Weihnachten 1944 bei seiner Großmutter zu Besuch und lud mich ein. Es waren bessere Leute. Ich musste vorsichtig sein, mich korrekt benehmen. Helmut hatte ein Tischkegelspiel bekommen, mit einem Kreisel. Es war eine Freude mit ihm damit zu spielen. Es war mein einziger Besuch, genug, mich Helmut nicht vergessen zu lassen. Auch Eberl soll hier erwähnt werden, nicht nur, weil ich mit ihm bei der Ankunft raufte, sondern schon des Zwickschen Furzes wegen. Auf der Rückkehr nach den Weihnachtsferien kamen etwa sechs von uns mit dem gleichen Zug abends in Raubling an. Wir machten uns in der Kälte und Dunkelheit auf, unser Zeug eine Stunde nach Neubeuern und auf den Schlossberg zu schleppen. Auf der Innbrücke ließ Eberl einen fahren, dann noch einen und noch einen. Vielleicht im Hinblick auf unseren verfrorenen Zustand behauptete Eberl, dass Furze brennen. Wir glaubten es nicht. Einer hatte Zündholzer im Gepäck. Wir scharten uns um ihn, um die nächste Emission abzuwarten und uns eventuell an Eberl zu wärmen. Er kündigte sie prompt an, beugte sich vornüber, das Zündholz wurde entfacht und an seine Hose gehalten wo, als er losbließ, zu unser aller Erstaunen eine blaue Flamme zwischen den Backen hinaufzüngelte. Er hatte recht gehabt. Das war zwar wissenschaftlich von Interesse, leider aber alsWärmequelle ungeeignet. Wir marschierten weiter in der Kälte. Eberl vergaß ich nicht. Neben der Winterkälte ist Hunger groß in meiner Neubeurer Erinnerung. Je länger der Krieg dauerte, desto dürftiger wurde die Verpflegung. Ich kann mich an den schönen Speisesaal, nicht aber an eine einzige gute Mahlzeit erinnern. Getrieben von Hunger, wurde meine altbayrische Geschmackstoleranz rücksichtslos erweitert. Es gab immer wieder eine süßliche, rosarote Traubensuppe, die ich anfangs für nicht essbar hielt, aber bald wie alle andern auf Befehl und hungrig mit Schaudern hinunterlöffelte. Einmal strömten wir mittags in den Speisesaal, in dem es zum Kotzen stank. In den weißen Suppenterrinen mit Löwenkopfgriffen wurde faulende Muschelsuppe angeboten. Niemand konnte sie essen, niemand durfte sie essen, natürlich auch unsere Zugführer nicht. Es gab keinen Ersatz und so verließen wir auf Befehl den Speisesaal ohne Mittagessen. Ich schrieb Hungerbriefe heim. Meine Mutter schickte ab und zu ein Päckchen, in das gerade ein kleiner, rechteckiger Gesundheitskuchen passte. Die ganze Stube stürzte sich darauf und schnell war kein Krümel übrig. Alles war ja rationiert und nur durch Lebensmittelmarken erhältlich. Meine Ration war natürlich der Napola zugeteilt. Die Post von zu Hause enthielt manchmal Reisemarken, abgezweigt von der spärlichen Familienration, für 50 oder 100 g Fleischwaren, die ich beim Metzger im Dorf sofort einlöste und mit quasi-religiöser Andacht verzehrte. Durch unsere Geländespiele hatten wir die Umgebung kennengelernt. Im Herbst 1944 wurden wir bei den umliegenden Bauern zur Kartoffelernte eingesetzt. Man konnte die rohen Kartoffeln zwar nicht essen, aber die beladenen Obstbäume machten einen guten Eindruck. Also zogen wir in kleinen Gruppen heimlich und auf eigene Faust zu einer Art Geländespiel aus, dessen Ziel es war, unbemerkt bei den Bauern Obst zu stehlen und im Schloss zu verstecken. Ich kann mich nicht erinnern, erwischt oder angezeigt worden zu sein. Wenn wir auch gesehen wurden, waren die Bauersfrauen wohl vorsichtig genug, nicht mit einer Beschwerde über kleine Nazi-Apfeldiebe in Schwierigkeiten zu geraten. In meinem Fall ging die kriminelle Betätigung aber noch weiter. Im Frühjahr 1945 war der Hunger so groß, dass ich auf der Wiese Sauerampfer suchte und versuchte Löwenzahnblätter und Schlüsselblumen zu essen. Walter Deisenberger und ich zogen auf Erkundung nach Essbarem aus, in die Auenwälder in Richtung Rosenheim. Wir kamen an die kleinen Seen. An einem war eine versperrte Fischerhütte. Wir brachen ein. Es war aber nichts Essbares zu finden. Nur ein langes, korkbestücktes und bleibeschwertes Netz hing zumTrocknen auf. Ich glaube wir waren uns beide be- 57

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