Jahrbuch_2020-21

154 SCHULE wusst, dass wir hier einen ernsten Verstoß begingen, umso mehr als wir uns je ein zwei Meter langes Stück abschnitten, um wenigstens irgendwas erbeutet zu haben. Auf dem Heimweg wurde uns klar, dass wir es niemand zeigen konnten. Ich versteckte mein Stück auf dem Speicher des Schlosses. Der 6. Juni 1944 war ein aufregender Tag. Es war fast am Ende meines ersten Napola Jahres. Wir hingen alle am Volksempfänger, als handelte es sich um eine Fußball Weltmeisterschaft. Die Aliierten kamen über den Ärmelkanal zur Landung in der Normandie. Aber die deutsche Mannschaft war natürlich bereit und trainiert, angeführt von Feldmarschall Rommel. Sie würden sich eine entscheidende Niederlage holen. Stunden später aber waren die Feinde noch immer am Strand und Küstengebiet! Ha, welch genialer Streich, sie landen zu lassen, um sie zu vernichten! Aber sie kamen und kamen, sie waren nicht aufzuhalten und ihr Vormarsch in Richtung Deutschland hatte begonnen. Die Stimmung wurde ernst. Fast ein Jahr später, im Frühjahr 1945 besuchte ein Offizier die Napola, um uns in den Gebrauch der Panzerfaust einzuführen. Berlin erwog die Aufstellung von „Panzerbekämpfungsverbänden“, überwiegend aus alten Männern und Hitler-Jungen wie uns bestehend, die sich in Gräben, in Ruinen oder hinter Trümmern verstecken sollten, bis ein feindlicher Panzer auf 50 Meter oder näher herangekommen war, um ihn dann abzuschießen. Der Offizier hatte zwei Modelle mitgebracht, ein leichteres mit einer Reichweite von 30 Metern und ein schwereres mit einer Reichweite von 60 Metern. Er erklärte uns den Gebrauch der Waffe. Es wurde also auch für uns Kinder militärischer Ernst! Wir würden selber an der Front stehen! Auf einer Wiese hatte ein Dorfschmied auf Geheiß des Offiziers ein schweres Eisengitter an den Ast eines alten Baumes gehängt. Nun also kam die praktische Einführung, angefangen mit einer Demonstration.Wir gingen in Deckung. Der Offizier zielte mit der kleineren Panzerfaust aufs Gitter und drückte ab. Nichts geschah. Frustriert legte er die Panzerfaust ab, nahm das größere Modell, zielte und drückte ab. Wieder nichts. Wieder legte er die Panzerfaust ab. Wir wurden aus der Deckung gerufen. Als der Offizier zu uns kam, um mit uns darüber zu sprechen, ging mit einem ohrenbetäubenden Knall die kleine, am Boden liegende Panzerfaust los und durchschlug zufälligerweise das Gitter. Na also! Ende der Ausbildung und Demonstration. Aber was wäre im Ernstfall aus uns geworden? Das Dritte Reich wurde für mich als Kind zusehends problematisch. Und die feindlichen Panzer rückten weiter vor, im Osten und Westen, überrollten schließlich sogar die deutsche Grenze, eine Stadt fiel nach der anderen. Anfang April 1945 kamen feindliche Panzer über den Main, sie waren in Aschaffenburg! Am 16. April, einem Montag, saßen wir wie immer zum Schulbeginn im Klassenzimmer. Zugführer Luckinger kam herein und sagte, wessen Elternhaus so nahe war, dass es noch vor den Amerikanern erreicht werden konnte, solle sofort heimfahren. Ich war unter denen, die weggeschickt wurden, packte meinen Tornister, versteckte den Rest meiner Sachen, wie Oberbett, das neue Reißzeug, das mir die Eltern zu Weihnachten geschenkt hatten, im gleichen Speicher wo das Fischnetz versteckt war und eilte, zusammen mit anderen, als Zwölfjähriger zum Bahnhof nach Raubling. Die Züge liefen längst nicht mehr nach Fahrplan, aber es kam schließlich einer, der uns bis Rosenheim brachte. Dort fand ich nach langemWarten einen Zug in Richtung München. Immer wieder musste der Zug in Waldschneisen oder Einschnitten halten, weil Tiefflieger unterwegs waren, für die ein Zug, besonders eine Lokomotive, ein begehrtes Ziel war. Nach Stunden erreichten wir den Außenbezirk Münchens, von wo ab die Gleise alle zerbombt waren. Ich hörte, dass dann und wann Lastwagen unterwegs seien, auf denen man durch München zu weiterführenden Zügen kommen konnte. Mit Hilfe freundlicher Leute fand ich schließlich einen in Richtung Freimann, ein altes, überladenes, mit Holzgas betriebenes Fahrzeug. Die Fahrt durch die Innenstadt war wie eine Fahrt durch eine brennende Mondlandschaft, Krater an Krater, schwelende Häuser, Hauszeilen von Ruinen und Schutt, Staub in der Luft wie Nebel. Ich konnte nicht glauben, dass ich im Deutschland des Führers war. Außerhalb Freimanns setzte mich der Laster ab. Ich fand auf freier Strecke einen Zug, der nach Einbruch der schützenden Dunkelheit in Richtung Landshut fahren sollte. Wie weit sei dahingestellt, weil Landshut eben bombardiert worden sei. Ob unser Haus noch stand, ob meine Eltern und Geschwister noch lebten? Wenn nicht, was dann? In der Dunkelheit fuhr der Zug los, von Bahnhof zu Bahnhof und kam Stunden später außerhalb des Landshuter Bahnhofs vor Bombenkratern zwischen Acker und Wiese in der Finsternis zum Stehen. Das Gelände war mir vertraut; denn wir wohnten am Rande der Stadt. In Richtung unseres Wohnviertels flackerten Brände durch die Dunkelheit. Ich konnte in zwanzig Minuten quer über die Wiesen links vom Bahnkörper daheim sein. Bald versperrten mir Bombenkrater den Weg. Ich war nicht der Einzige, der da im Finstern herumsuchte. Der Zug hatte sich entleert. Andere Reisende, Gepäckstücke nach sich ziehend, suchten einen Weg durch das Trümmerlabyrinth, um am andern Ende irgendwie weiter in Richtung Regensburg zu kommen. Ich konnte nicht weiter, suchte zusammen mit anderen Reisenden einen Weg auf der anderen Seite des Bahnkörpers, musste auch da ausweichen, geriet schließlich auf den Rennweg, eine Straße durch die Schwaigen, die Landshut mit Gemüse versorgten, die unbeschädigt war und von der aus in kurzer Zeit ein Fußweg über eine Brücke an einer Kapelle vorbei zu meinem Viertel führte. Auch da war im Finstern nichts zu machen. Die Kapelle war weg, auch die Brücke. Der Bach, über den sie führte versuchte im Trichterfeld ein neues Bett zu finden. Ich stak bald im Morast, kehrte um, ging leise an der Knogler Schwaige amWohnhaus vorbei, fand den Heustadel unversperrt und tappte mich hinein ins Heu, wo mich ein lauter Schrei aus der Finsternis bis ins Mark erschreckte. Eine reisende Frau hatte darin mit ihrer kleinenTochter Unterschlupf gesucht und war 58

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