155 SCHULE in der Dunkelheit so über mich erschrocken, wie ich über sie. Morgens machte ich mich wieder auf den Weg durch die Trichterlandschaft, kam schließlich zur Bahntrasse und sah von deren Erhebung unser Viertel und unser Haus, anscheinend unbeschädigt. Auf der anderen Seite der zerfetzten Gleise war der Bauernhof einer Familie, die mir gut bekannt war, zerbombt, inmitten eines Trichterfeldes, in dem Leichen und Leichenteile lagen; denn vor dem Angriff waren die Züge bis hierher gefahren und die wartenden und suchenden Reisenden hatten sich in den Bauernhof geflüchtet. Ich kam an einen ziemlich intakten Körper eines gut gekleideten Mannes. Er lag auf dem Rücken. Aus seiner Westentasche hing eine goldene Uhr. Ich blieb stehen und überlegte, ob ich sie ihm abnehmen sollte, er war ja tot. Während ich überlegte, bemerkte ich, dass der weitere Weg ins nahe Elternhaus leicht zu gehen war, denn die Bombeneinschläge lagen weiter auseinander und hörten kurz vor unserer Straße auf. Also schnell heim, ohne Uhr! Meine Mutter war im Garten, sah mich die Straße hergehen in meiner Uniform und meinem Tornister, öffnete schnell das Gartentor, umarmte mich und sagte: „Weil du nur wieder da bist! Zieh nur gleich deine Uniform aus und zieh wieder die Lederhose an!“ Damit war meine Napola Jungmannen Zeit zu Ende. Während ich in Neubeuern an jenem Montag meine Sachen gepackt hatte, waren in Horham St. Faith, bei Norwich, England, drei Staffeln vier-motoriger B-24 „Liberator“ der 458. Bombergruppe, U. S. Luftwaffe aufgestiegen, um in ihrem 237. Einsatz Ziele in Deutschland anzugreifen. Die Umstände am Hauptziel und Ersatzziel waren ungünstig, so wurden sie nach Landshut umgeleitet. In ihrem Logbuch für April 1945 steht: „ …we were back on the job on the 16th with an attack on our third priority target, the M/Y at LANDSHUT, GERMANY … with the command lead going to MAJOR BREEDING. We had hoped for a visual run and the gods were with us. We dropped 258x500 GP’s with the following results: SAV’s show that two squadrons obtained very good hits on two visually selected MPI’s while the othersquadron had poor results.“ (Wir waren wieder an der Arbeit am 16. mit einem Angriff auf ein Ziel dritter Priorität, den Rangierbahnhof in Landshut, Deutschland, unter Führung von Major Breeding. Wir hatten auf eine visuelle Bombardierung gehofft und die Götter waren mit uns. Wir warfen 258 der Standard 500 Pfund Bomben ab mit folgendem Resultat: die Luftaufklärung zeigt, dass zwei Staffeln sehr gute Treffer auf zwei der ausgewählten Angriffspunkte erzielten, während die dritte Staffel schlecht abschnitt.) Meine Mutter wollte das schöne Oberbett nicht verschmerzen und so machte ich mich, sobald wieder Züge liefen, auf den Weg, um es vom Speicher in Neubeuern zu holen. Noch einmal ging ich also von Raubling zum Schlossberg, fand das Schloss verlassen vor, die Türen offen oder aus den Angeln, Kronleuchter zertrümmert am Boden, Stuck heruntergeschlagen, Parkettboden aufgebrochen, Fenster eingeschlagen, Mobiliar zerbrochen. Mein Versteck war ausgeräumt. Nichts mehr war da. Keine Menschenseele weit und breit. Ich ging zur Turnhalle, die mir wegen ihrer Kacheln mit eingebetteten Fossilien und dem schönen Holzboden so gefallen hatte. Auch da waren Kacheln heruntergeschlagen und der Fußboden aufgebrochen. Mir kam schließlich eine alte Frau entgegen, die sagte, polnische Zwangsarbeiter hatten nach ihrer Befreiung das Schloss verwüstet. Ich las ein kleines Stück eines Kronleuchters vom Boden auf und fuhr heim. Ich habe es noch heute. Fast dreißig Jahre später, 1973, verbrachte ich ein Freisemester in Bayern. Meine Frau, drei kleine Kinder, meine Eltern und ich waren im Innviertel unterwegs. Wir hielten in Neubeuern. Ich wollte meiner Familie zeigen, wo ich im Krieg in die Schule gegangen war. Wir stiegen den Pfad vom Markt zum Schloss hinauf, kaum aber lehnten wir an der Brüstung und schauten ins Inntal hinab, kam schon ein junger Herr resoluten Schrittes aus dem Schloss und fragte, was wir hier suchten. Ich erzählte ihm, dass ich hier von 1943 bis 1945 wohnte und zur Schule ging, worauf er mich unterbrach und aufforderte, den Schlossberg sofort zu verlassen. Das war mein allerletzter Kontakt. Was ist geblieben in meinem Leben? Die Napola stellte die Weichen zu einer akademischen Existenz. Ich wäre sonst wahrscheinlich Müller geworden, mein Kindheitstraum. Mehr noch prägte mich das Erlebnis des Zusammenbruchs der obersten Autoritäten, des Versagens der ganzen Elterngeneration, der Lügen und der Kriminalität der Erwachsenen um mich her, die doch Verantwortung auf sich genommen hatten. Ich misstraue noch jetzt, als alter Mann, jeder Autorität, hab eine Allergie gegen Uniformen, war mein ganzes Berufsleben lang ein problematischer Untergebener, ich bin so froh, dass wir hier im abgeschiedenen amerikanischen Dorf unseren Sheriff selber wählen und abwählen. Als meine (amerikanische) Frau und ich 1958 von München nach Boston zogen, unser Schiff sich dem Hafen von New York näherte, das Lotsenboot anlegte und der amerikanische Lotse die Schiffsleiter heraufstieg und in Zivilkleidung war, kamen mir Tränen. Seitdem lebe ich hier. Auch das verdanke ich mit der Napola Neubeuern. Amerika hat sich verändert. Die globale Welt droht mit globalen Autoritäten. Für mich nicht mehr lange. Ich hab das Glück ein alter Mensch zu sein. Über siebzig Jahre sind es her, dass ich nur eineinhalb Jahre lang auf der Napola Neubeuern war. Viele, längere Abschnitte meines Lebens sind mir vage in Erinnerung. Seltsamerweise nicht diese kurze Zeit. Herr Meier 1942 und im Schloss 5. Mai 2017 59
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