Jahrbuch_2020-21

161 SCHULE 65 Heimweh „Durst ist schlimmer als Heimweh“ - dieser Spruch mag für Erwachsene - ob schlank oder dickbäuchig - zutreffen, aber kaum für zehnjährige Heranwachsende, um nicht zu sagen Kinder. Heimweh ist schlimm. Heimweh kann schlimmer sein als vieles andere. Ich habe meine Erfahrungen. Also - die einwöchige Aufnahmeprüfung in Kasperlmühle war absolviert, die erhoffte Bestätigung über die bestandene Prüfung eingetroffen, und zusammen mit Mutter und dem zufällig anwesenden Grossvater an einem schönen - ich meine, es wäre ein Sonntag gewesen Ende August 1942 die Fahrt vonWasserburg am Inn nach Neubeuern angetreten. Das Schloss konnte mit seinen wesentlichen Räumen und unseren zukünftigen Stuben besichtigt werden, die Aussicht vom Schlossberg war herrlich, die Sonne schien immer noch, es herrschte eine angenehme Temperatur, und überall Eltern mit ihren Söhnen, die meine Klassenkameraden werden sollten, dazwischen einige freundliche Erzieher, alles in allem ein Bild nahezu vollständiger Harmonie. Sollte hier schon der Nachwuchs für die zukünftige Elite der Nation versammelt sein? Ich glaube - der Gedanke hieran kam in uns in diesem Augenblick nicht auf. Es war alles so friedlich. Der Sohn - ich - drängte dann ziemlich plötzlich Mutter und Großvater: „Wann fahrt Ihr denn?“ Und kurze Zeit darauf: „Wann fahrt Ihr denn endlich?“ Sie fuhren. Zurück blieb ein etwas eigenartiges diffuses Gefühl, zu diesem Zeitpunkt nichts unbedingt Beunruhigendes. Am nächsten Morgen begann dann das, was ab nun täglicher Alltag wurde. Aufstehen, Unterricht „Rechts um“ - Links um“ „Stillgestanden“ „Im Gleichschritt - marsch“ Nun, ich brauch‘ Euch das ja alles nicht zu erzählen. Das Reglement, die Routine, unsere Stubenältesten, nicht zuletzt unsere Erzieher, alles hatte uns fest im Griff. Wir waren der 1. Zug, die Neuen, die Jüngsten. War es das, was ich mir alles so von Neubeuern vorgestellt hatte? Darauf konnte ich mir keine klare Antwort geben. Aber ein Gefühl, das ich für mich wohl korrekt als Heimweh erkannte, wurde immer stärker, fast bedrohlich. Natürlich funktionierte ich im System weiter, aber abstruse Gedanken durchkreuzten mein Gehirn. Wie könnte ich es ermöglichen, die Schule zu verlassen, ohne dass man mir Versagen, Feigheit, mangelndes Durchhaltevermögen, Schlappheit oder was weiß ich andere ehrenrührige Beweggründe vorwerfen könnte? Ein legitimer Grund musste her. Wenn ich mir etwas brechen würde, dann wäre ich erst einmal nicht mehr schultauglich, folglich müsste man mich nach Hause schicken. Also was brechen? Einen Arm, oder besser ein Bein - oder doch besser einen Arm, denn gehen können wollte ich nun doch. Also einen Arm! Das war im Augenblick das Resultat meiner Gedankenspiele. Ich stellte fest, dass ich mit meinen Gefühlen nicht ganz allein war. In Josef Eichmüller fand ich einen Leidensgenossen. Wir stammten beide aus demselben Ort - Wasserburg am Inn - hatten zusammen dieselbe Volkschule besucht und waren beide in Neubeuern angenommen worden. Der (2.) Donnerstagnachmittag (nach unserem Schulantritt) war wie üblich dienstfrei, wir begaben uns bei schönem Wetter in den Schlosspark, suchten dort ein stilles Plätzchen und beklagten unser gemeinsames Schicksal. Diverse Möglichkeiten, die zumVerlassen der Schule führen konnten, ja führen mussten, wurden durchgesprochen. Ich trug meine, aber noch nicht definitiv beschlossene, Problemlösung vor: „Auf einen Baum klettern, sich herabfallen lassen, einen Arm brechen.“ Der Dienst ging weiter, das Funktionieren im System hatte Vorrang. Aber der Inhalt unseres Gespräches im Schlosspark hatte Niederschlag in einem Brief gefunden, den Josef an seine Mutter schickte. Der Depp (er möge mir verzeihen) hatte doch tatsächlich geschrieben: „.... und Doedter will auf einen Baum steigen und sich einen Arm brechen.“ Als sich beider Mütter wenig später beim Einkaufen in Wasserburg trafen, wurde meine Mutter sofort mit „und Doedter will sich einen Arm brechen“ konfrontiert. Ich sage meiner verstorbenen Mutter noch heute Dank, dass sie zwar mein Heimweh mit Gefühl wahrgenommen hat, aber den zu brechenden Arm wohl nicht allzu ernst nahm. Wieder einige Tage später bekamen wir Gelegenheit, übers Wochenende nach Hause zu fahren. Wie habe ich mich auf dieses Wochenende gefreut, eröffnete es doch für einige Stunden eine, wenn auch kurze Erlösung von seelischen Qualen. Doch am Tage vor unserer Anreise erhielt die Anstaltsleitung einen Anruf meiner Mutter, man möge ihren Sohn Joachim nicht nach Wasserburg fahren lassen, dort sei Kinderlähmung (eine zu jener Zeit gefürchtete Krankheit). Aus mit der Heimfahrt, das Herz war schwer. Josef Eichmüller fuhr trotz allem nach Wasserburg. Ich blieb. Josef kehrte nicht mehr zur Anstalt zurück. Das Heimweh hatte gewonnen. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Mein Heimweh war nach wie vor zugegen. Nach zwei weiteren Wochen glaubte ich, meine Mutter unbedingt sehen zu müssen. Auf einer Postkarte stand kurz formuliert mein Wunsch: „Mutti, besuch‘ mich mal.“ Der 1. Zug war nachmittags am unterhalb des Schlossberges gelegenen Freibad zu Schwimmübungen versammelt. Ein älterer Schüler tauchte auf: „Doedter, Du sollst Dich sofort oben bei Zugführer Soundso melden!“ „Wieso?“ „Weiss ich nicht.“ Im Dauerlauf den Berg hinauf. Oben angekommen, stand ich - vor meiner Mutter. Mit der erstaunten Frage: „Mutti, was machst Du denn hier?“ Das Heimweh in seiner zermürbenden Form war überwunden, von einem auf den anderen Tag. Ich hatte Tritt im System gefasst, oder das System in mir. Trotzdem bleibt ein kleiner relativierender Nachtrag. Rückkehr aus dem Urlaub war für mich auch danach immer kurzzeitig mit heimwehartigen Gefühlen verbunden, und ein einziges Mal wahrgenommener Wochenendurlaub produzierte sogar einen ungleich stärkeren seelischen Kater. Mit der Folge, dass ich aus dieser Erfahrung heraus beschloss, 24-Stunden-Urlaube nicht mehr wahrzunehmen: Die kurze Freude eines Zusammenseins mit der Familie würde durch das nachfolgende seelische Durcheinander nicht aufgewogen. Ich habe mich an diesen Beschluss gehalten. Joachim Doedter

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