47 SCHULE Besondere der Atmosphäre, worin dieser kaum zu beschreibende und doch uns allen ständig nicht bewußte aber spürbare genius loci bestanden hätte. Sicher war es dieses Haus, diese Lage, diese Landschaft die auch euch allen so vertraut ist, dass ihr sie kaum noch wahrnehmt. Und doch war es noch etwas anderes: dieser Raum, in dem wir uns befinden, die Räume rundum, sie waren damals noch Privathaus, „Schloß“ - wie wir es nannten. Und allein das Dasein der Freifrau, die wir gar nicht so sehr oft sahen, mit ihrer Lebensmaxime „Adel verpflichtet“ führte, ja zwang uns zu einem Verhalten, nicht nur in den äußeren Formen, das eben anständig sein musste. Erst heute weiß ich, wieviel Sorge, aber auch wieviel Anregung und Rat für die Schule, für jeden einzelnen Schüler von ihr ausgingen. Nie wäre es einem von uns Schülern eingefallen, nicht den Abstand zu wahren, den sie selbstverständlich erforderte. Nie wurde von Gefühlen gesprochen, nie wurde Herz oder Wärme oder Gemüt, oder wie alle diese wohlmeinenden Worte heißen mögen, verkündet, nie aber wäre es auch einem von uns je eingefallen, die Existenz der Werte, die hinter diesen Worten stehen, in Zweifel zu ziehen. Wir lernten wie selbstverständlich in diesem Neubeuern, daß es nicht unbedingt notwendig sei, Gefühle zu zeigen, um sie zu haben. Neubeuern wuchs dann in den dreißiger Jahren in die Zeit hinein, deren Deutung wir uns, die wir ihr zeitlich noch so nahestehen, enthalten wollen. Denn wer möchte sich vermessen, die Hintergründe, die solch umwälzende Erscheinungen herbeiführten, heute schon zu erkennen. Aber das, was damals geschah, es war in seinem Hang zum Schein, in dem Hang des Sich-zur-Schau-stellens der Freifrau im tiefstenWesen fremd. Ich erinnere mich noch, wie ich - inzwischen „alter Neubeurer“ geworden - manchmal versucht habe, sie zu überreden, doch in äußeren Dingen Konzessionen zu machen, um das Wesentliche an Neubeuern, um die Schule überhaupt zu retten. Gottlob wußte sie es besser! Die Schwierigkeiten mehrten sich, als der damalige Gauleiter Wagner anfing, sich für Neubeuern - ich weiß nicht zu welchem Zwecke - zu interessieren, immer ultimativere Kaufangebote abgab, bis schließlich 1941 von einem Tag auf den anderen die Schließung der Schule befohlen wurde, „weil Besitzerin und Leitung nicht die Gewähr dafür böten, daß die Erziehung im nationalsozialistischen Geist erfolge“. Zunächst wurden Kinder aus bombengefährdeten Gebieten in die requirierten Räume eingewiesen. Dann vermehrten sich immer dringlicher die Anzeichen, daß die Beschlagnahme des ganzen Schloßkomplexes unmittelbar bevorstehe. Da reiste sie, damals schon 70 Jahre alt, in einem plötzlichen Entschluß nach Berlin und verkaufte das Schloß an das Reichserziehungsministerium, damit hier wenigstens - auch unter einem völlig anderen Zeichen - der Schloßberg für die Jugend und als Schule erhalten bleibe. NAPOLA nannte man das damals - und die Scheußlichkeit dieser Wortbildung ist ein Zeichen für die Verwirrung der Sprache und damit der Begriffe, die zu jener Zeit herrschte - zog hier ein. Die Freifrau erhielt das Recht, noch auf befristete Zeit im Westflügel wohnen zu bleiben, bis sie eine andere Bleibe gefunden hätte. Aber gleichsam nur mit halbem Herzen, eigentlich nicht ernsthaft, suchte sie nach einer anderweitigen Unterkunft und lachend sprach sie manchmal von ihrem „kleinen Haus in Altenbeuern“, der Gruftkapelle drüben am Friedhof, daß ihr ja noch bleibe. Viel mehr als dem eigenen „Fortkommen“ galten ihre Gedanken den alten Schülern, die draußen im Kriege standen und deren Todesnachrichten sich in immer erschreckenderer Weise häuften. Man muß die Briefe der Eltern gefallener Schüler an die Freifrau Wendelstadt gelesen haben, um einen Begriff von der Schwere jener Zeit zu bekommen, aber auch um eine Ahnung davon zu haben, was dieses Neubeuern, das in seiner alten Form doch nicht mehr existierte, denen bedeutet hat, die im Feld standen, um ihre Heimat zu verteidigen; vielleicht war für viele von ihnen der Blick hier von der Terrasse hinunter ins Tal, den wir täglich vor uns haben und kaum mehr achten, zum Inbegriff von Heimat überhaupt geworden. Das Ausziehen aus dem geliebten Neubeuern blieb der Freifrau erspart. Ihr Auszug war der Trauerzug nach ihrem Tode, da aus dem ganzen Inntal die Bauern in ihren Trachten ihr das Geleit den Schloßberg hinunter gaben, an einem föhnigen Tag im November, an dem immer wieder die Sonne durch die Wolken brach und der Kaiser und der Venediger sich in dem unwirklichen Lichte zeigten, daß wir immer einmal wiedersehen dürfen. Durch die ganzen vergangenen Jahrhunderte war es Sitte, daß die kleine Glocke über der Kapelle als Totenglocke der Besitzer und Herren des Schlosses Neubeuern geläutet wurde. War es mehr als ein Zufall, daß diese Glocke zersprang, als sie zum Abschied der letzten Schloßherrin von Neubeuern läutete? Wir aber, die wir heute und in Zukunft hier sind, wollen ihr in ihrem Haus und mehr noch in unserem Herzen eine lebendige Gedenkstätte bereiten. Bild/Text C.v.Stauffenberg ARCHIV Schloss Neubeuern 4
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