Jahrbuch_2020-21

60 SCHULE Denke ich an jene Zeit zurück, so muss ich sagen, dass sie objektiv schön, erfüllt und reich war. Aber ich empfinde in der Rückschau nichts als mein damaliges Bedürfnis, mich abzukapseln, keinen an mich heranzulassen, allein zu sein, psychisch und physisch. Der Ton in den gemeinsamen Schlafräumen, die Art des gemeinsamen Essens, schließlich die beaufsichtigte Arbeit für die Schule und die (ganz berechtigten) Anordnungen, sich zum Spazierengehen an- und abzumelden, all dies brachte soviel Fremdes für mich, dass ich mich die ganze Zeit in einer Art innerer Abwehr befand. Dabei waren die Lehrer, besonders der Direktor Dr. Rieder, ein weit über die Grenzen Deutschlands berühmter Schulmann, sehr darum bemüht, mich in das Schul- und Internatsleben zu integrieren. Mich verschreckten diese neuen und ungewohnten Eindrücke, und sicher reagierte ich auch falsch, indem ich mich abkapselte. Allerdings war ich nicht der einzige, dem derWechsel vom behüteten Zuhause in das Internat schwer fiel. Jedes Jahr Naziherrschaft spürten die Verantwortlichen mehr, dass die Existenz der Schule auf dem Spiel stand, wenn die Anordnungen des bayerischen Kultusministeriums nicht befolgt wurden. Ab 1938 durften in deutschen Schulen keine jüdischen Kinder mehr unterrichtet werden. Als ich nach Neubeuern 1937 kam, hatten die wohl meist wohlhabenden jüdischen Familien ihre Kinder aus dem Landschulheim genommen, waren entweder ausgewandert oder, wie ich aus anderen Quellen weiß, in noch geduldete jüdische Internate getan. Bei den Ausländern war es etwas anderes. Noch hüteten die Nazi-Behörden sich, gegen diese vorzugehen. Auch in der Lehrerschaft tauchte der eine oder andere echte Nazi auf, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hielten. Die Baronin und der Direktor sahen das wohl. Sie bemühten sich, um der Schule willen in einer schwierigen Gradwanderung nach außen den Anforderungen der Zeit Folge zu leisten und auch Kontakte zu Nazigrößen zu halten, bei passender Gelegenheit andererseits aber auch ihre Ablehnung der Nazi-Ideologie auszudrücken. Das Ende vom Lied - ich greife jetzt vor - war aufgrund von Denunziationen über „reaktionäre“ Äußerungen einiger Schüler die Anordnung von oberster Stelle, die Schule zu schließen und dann noch, kurz vor ihrem Tode, die Baronin zu enteignen. Eine NAPOLA, eine nationalsozialistische Erziehungsanstalt, später im Kriege dann ein Lazarett und nach 1945 ein Flüchtlingslager der UNO für ehemalige KZ-Häftlinge, vertriebene Osteuropäer und sonstige vom Naziregime Verfolgte, ruinierten das einst gepflegte Schloss in seiner baulichen Substanz und seiner Ausstattung in Kürze total. Zurück in das Jahr 1936: DerTag lief in Neubeuern von Montag bis Samstag nach festen Regeln ab: Je nach Wetter wurde zwischen 06.15 und 06.35mittels lautem Klingeln geweckt. Zusätzlich stürmte der diensthabende Lehrer von Zimmer zu Zimmer und riss mit einem Morgengruß die Türen auf. Da gab es dann kein Besinnen oder Strecken mehr. Aus dem Nachtkastl zerrte manTurnhose undTurnschuhe heraus zum Frühlauf, der durch den Schlosspark ging oder zur Frühgymnastik vor dem Schlossportal. Ein Turnlehrer trieb uns mit anfeuernden Rufen die Müdigkeit aus den Knochen. Zwanzig Minuten hatten wir für Waschen und Anziehen und um 07.00 saßen wir im Esssaal am Frühstückstisch. Schnell holte dann jeder seine für die nächsten Stunden erforderlichen Bücher und Hefte aus einem Regal im Klassenzimmer. Sechs unterschiedlich intensive Schulstunden, unterbrochen von einer Frühstückspause folgten jeden Tag. Unangenehm speziell für mich, den Unsportlichen, war, dass an jedem Tag eine Turnstunde eingeplant war, zu der wir uns umziehen und zum Sportplatz bzw. zur Turnhalle, die auf halber Höhe des Berges lagen, hinunterrasen mussten. In den Oberklassen war die Turnstunde die letzte Stunde vor dem Mittagessen, so dass wir einigermaßen rechtzeiErinnerungen eines „Unsportlichen?“ 20. September 1922 - 2. Februar 2019 17 Hans-Albrecht von Gronau

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